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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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Kinotrop-Leinwand krochen Finger aus Dunkelheit in schlangenartigen Bewegungen von den Rändern einwärts. Sie bedrohten das Staatssiegel.
    Gouverneur Houston und Gemahlin hatten sich kaum nie dergelassen und eingerichtet, als die Frau zurück zu ihrer Familie floh. Sie hatte ihm einen Brief hinterlassen, der ein schreck liches Geheimnis enthielt. Ein Geheimnis, sagte Houston, das er nie enthüllt habe, denn er habe geschworen, es mit sich ins Grab zu nehmen. »Eine private Angelegenheit, über die ein Ehrenmann nicht sprechen kann und darf. Schwarzes Unheil traf mich …«
    Die Zeitungen – offenbar gab es in Tennessee Zeitungen – hatten ihn angegriffen. »Die Klatschmäuler der Verleumdung überschütteten mich mit ihrem Gift«, lamentierte Houston, als wieder der griechische Schild mit dem Raben erschien und mit schwarzen Kinotrop-Klecksen – Schmutz, vermutete Sybil – bespritzt wurde.
    Houstons Enthüllungen wurden schockierend. Er hatte tatsächlich die Scheidung von seiner Frau durchgesetzt und sie damit aufs Äußerste kompromittiert. Natürlich hatte er daraufhin seinen Gouverneursposten verloren; die entrüstete Gesellschaft hatte ihn aus dem Amt gejagt, und Sybil wunderte sich, dass Houston es gewagt hatte, einen solch hässlichen Skandal zu erwähnen. Als ob er erwartete, dass sein Londoner Publikum einen geschiedenen Mann moralisch billigen würde. Immerhin schienen die Damen interessiert und vielleicht nicht gänzlich ohne Sympathie. Sogar die fette Mama belüftete ihr Doppelkinn mit einem Fächer.
    Schließlich war General Houston ein Ausländer, ein halber Wilder, nach seiner eigenen Erzählung; aber wenn er von seiner Frau sprach, geschah es mit Zärtlichkeit, wie von einer wahren Liebe, die von einer grausamen, geheimnisvollen Wahr heit erschlagen worden war. Seine bellende Stimme brach in offen gezeigtem Gefühl; er wischte sich die Stirn mit einem feinen Taschentuch aus seiner Leopardenfellweste.
    In Wahrheit war er kein schlecht aussehender Kerl, über sechzig, aber diese Sorte konnte gütiger zu einem Mädchen sein. Sein Bekenntnis erschien ihr kühn und mannhaft, denn er selbst hatte die Angelegenheit zur Sprache gebracht: den Scheidungsskandal und den geheimen Brief von Mrs. Houston. Anscheinend konnte er nicht aufhören, darüber zu reden, aber er wollte ihnen auch nicht das Geheimnis sagen; er hatte die Neugierde seines Publikums angestachelt – und Sybil war ganz und gar versessen darauf, es zu erfahren.
    Sie schalt sich wegen dieser Neugierde, denn wahrscheinlich war es etwas Einfaches und Dummes, nicht halb so tiefgründig und mysteriös, wie er tat. Wahrscheinlich war dieses Mädchen aus guter Familie nicht halb so engelhaft gewesen, wie es ausgesehen hatte. Vielleicht hatte ihr irgendein gut aussehender Mädchenverführer aus Tennessee den Jungfernkranz gestohlen, lange bevor Houston dahergekommen war. Männer hatten harte Regeln für ihre Bräute, doch niemals für sich selbst.
    Gut möglich, dass Houston sich das alles selbst eingebrockt hatte. Vielleicht hatte er von seinem Leben mit den Wilden abscheuliche und schweinische Vorstellungen vom Eheleben gehabt. Oder vielleicht hatte er seine Frau verprügelt – denn Sybil hatte den Eindruck, dass er durchaus auch ein Grobian sein konnte.
    Die Kinotrop-Leinwand belebte sich mit Harpyien, die Houstons Verleumder symbolisieren sollten, die seine kostbare Ehre mit der Druckerschwärze ihrer Schmutzpresse besudelt hatten. Bösartige bucklige Dinger drängten sich in teuflischem Schwarz und Rot auf der Leinwand und zuckten mit den gespaltenen Hufen. Noch nie hatte sie dergleichen gesehen, sicherlich hatte ein Lochkartenkünstler aus Manchester sie im Gin-Delirium geschaut … Nun eiferte Houston über Herausforderungen und Ehre, womit er das Duellieren meinte. Schließlich waren die Amerikaner bekannt dafür, dass sie Waffennarren waren und einander wegen jeder Kleinigkeit erschossen. Er hätte einige dieser Zeitungshalunken erschossen, bekräftigte Houston mit lauter Stimme, wenn er nicht Gouverneur und es unter seiner Würde gewesen wäre. Also hatte er stattdessen den Krempel hingeworfen und war zurück zu seinen edlen Cherokee gegangen, um mit ihnen zu leben … Er war jetzt richtig in Fahrt gekommen und hatte einen roten Kopf, dass es beinahe beängstigend war, ihn anzusehen. Das Publikum fühlte sich unterhalten und gab angesichts seiner herausquellenden Augen und der dicken Adern zu beiden Seiten seines stiernackigen texanischen

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