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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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    Und die Erdarbeiten gingen weiter, diese und jede Nacht, denn sie hatte das Fauchen der großen Maschinen gehört, als sie mit Mick auf dem Straßenpflaster von Whitechapel gestan den hatte; die Ausgräber arbeiteten unaufhörlich, bohrten jetzt neuere, tiefere Strecken unter dem Gewirr der Abzugskanäle und Gasleitungen und überbauten Wasserläufe. Die neuen Strecken waren mit Stahl abgestützt, und bald würden Lord Babbages rauchlose Züge still wie Aale hindurchgleiten, obwohl sie den Gedanken daran irgendwie unrein fand.
    Die Lampen flackerten alle gleichzeitig, als ein besonders harter Stoß die Gaszufuhr in den Leitungen störte; gleich darauf leuchteten sie heller auf als zuvor, und die Gesichter der anderen Passagiere schienen ihr entgegenzuspringen: der blasse Herr, der etwas vom erfolgreichen Gastwirt an sich hatte, der pausbäckige alte Quäker-Geistliche, der betrunkene Stutzer mit dem offenen Mantel und der kanariengelben Weste, die von oben bis unten mit Rotweinflecken gesprenkelt war …
    Es gab außer ihr keine andere Frau im Wagen.
    Sie stellte sich vor, wie sie den Mitpassagieren zurief: Leben Sie wohl, meine Herren, und ein Lebewohl Ihrem London , denn jetzt war sie Lehrling bei einem Abenteurer, wahrhaftig und durch ihren Eid gebunden, unterwegs nach Paris, obwohl die erste Etappe der Reise notwendigerweise aus der Zweipennyfahrt zurück nach Whitechapel bestand …
    Aber der Geistliche hatte sie bemerkt und zeigte derart offen seine Verachtung, dass jeder sie sehen konnte.
    Es war wirklich ganz schrecklich kalt, als sie von der Station zu ihrem Zimmer in der Flower and Dean Street ging; sie bedauerte ihre Eitelkeit, die sie gedrängt hatte, den schönen neuen Schal zu wählen und den Überwurf zu Hause zu lassen. Ihre Zähne klapperten, ihr Atem dampfte. In den Lichtkreisen der Gaslaternen glitzerte der Raureif auf dem neuen Makadam der Straße.
    Das Kopfsteinpflaster Londons verschwand von Monat zu Monat mehr, wurde überdeckt mit schwarzem Zeug, das stinkend und heiß aus den Mäulern großer Wagen strömte, um von Straßenarbeitern mit breiten Rechen ausgebreitet und geglättet zu werden, bevor die Dampfwalze anrückte.
    Ein wagemutiger Bursche sauste auf der rauen neuen Oberfläche an ihr vorbei. Beinahe liegend im knarrenden Rahmen eines vierrädrigen Velozipeds, trat er kräftig in die Pedale, an die seine Schuhe geschnallt waren, und sein Atem kam in explosiven Stößen wie von einer Dampfmaschine. Er war barhäuptig und bebrillt, in einem dicken, gestreiften Pullover und einem langen gestrickten Schal, dessen Ende wie eine Fahne hinter ihm wehte, als er weitersauste. Sybil vermutete einen Erfinder in ihm.
    London wimmelte von Erfindern. Die ärmeren und verrückteren von ihnen versammelten sich auf den öffentlichen Plätzen, um ihre Modelle und Blaupausen zur Schau zu stellen und dem vorbeischlendernden Publikum anzupreisen. Innerhalb einer Woche hatte sie ein bösartig aussehendes Gerät angetroffen, das mithilfe der Elektrizität Locken ins Haar brennen sollte, ein mechanisches Kinderspielzeug, das Beethoven spielte, und ein Projekt zur galvanischen Versilberung von Verstorbenen.
    Als sie die Durchgangsstraße verließ und in die Renton-Passage einbog, konnte sie das Zeichen des Hirsches erkennen und hörte das Geklimper eines Pianolas. Mrs. Winterhalter hatte ihr das Zimmer über dem Hirsch besorgt. Die Gastwirtschaft selbst war ein solides Lokal, das keine Frauen einließ. Seine Gäste waren hauptsächlich jüngere Angestellte und Ladenbesitzer, und seine pikanteste Attraktion war eine mit Münzen gefütterte Wettmaschine.
    Die über der Gastwirtschaft liegenden Räume wurden mittels einer steilen dunklen Treppe erreicht, die unter einem verrußten Dachfenster zu einem Treppenabsatz führte, auf dem es zwei identische Türen gab. Hinter der Tür zur Linken hatte Mr. Cairns, der Hausbesitzer, seine Wohnung.
    Sybil erstieg die Treppe, fummelte eine Streichholzschachtel aus ihrem Muff und zündete eins an. Cairns hatte ein Fahrrad an das eiserne Treppengeländer des Absatzes gekettet; das messingene Vorhängeschloss schimmerte im Aufflammen des Streichholzes. Sie schüttelte die Flamme aus und hoffte, dass Hetty die Tür nicht doppelt zugesperrt hatte. Hetty hatte nicht, und Sybils Schlüssel drehte das Schloss glatt und leise.
    Toby war da, sie zu begrüßen, tappte lautlos über die nackten Dielenbretter, um an ihren Knöcheln entlangzustreifen und sich um ihre Beine zu

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