Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
in ihrem Leben.
Es war eine Sache, Grand’s Hotel an Micks Arm bei Tageslicht zu betreten. Aber nach Mitternacht als unbegleitete Frau von der Straße hereinzukommen, war etwas anderes. Nur Huren taten das, und der Nachtportier ließ keine Huren ein. Aber vielleicht fiel ihr eine einleuchtende Geschichte ein, ihn zu täuschen, eine sehr gute Lüge, mit der sie durchkommen könnte, wenn er nachlässig oder müde war. Oder sie könnte es mit Bestechung versuchen, obwohl ihr nach der Droschkenfahrt nicht viel geblieben war. Außerdem war sie anständig gekleidet, nicht in der auffälligen Art einer Straßendirne. Oder vielleicht ließ er sich durch einen Kniff ablenken. Sie könnte mit einem Pflasterstein ein Fenster einwerfen und an ihm vorbeilaufen, wenn er herauskäme, um nachzusehen. Es war nicht einfach, in einer Krinoline zu laufen, aber er war lahm und langsam. Noch besser wäre es, wenn sie einen Straßenjungen finden könnte, der den Stein für sie warf …
Sybil stand im Dunkeln neben dem Bretterverschlag eines Bauplatzes. Über ihr waren Plakate angeschlagen, größer als Bettlaken, mit riesigen, reißerischen Aufschriften: DAILY NEWS – weltweite Verbreitung; LLOYD’S NEWS – nur einen Penny; SOUTH EASTERN RAILWAY Ramsgate & Margate 7/6. Sybil zog eine Hand aus dem Muff und nagte fieberhaft an ihrem Fingernagel, der nach türkischem Tabak roch. Sie war in einer abgestumpften Weise überrascht, dass ihre Hand blaugefroren war und stark zitterte.
Ein reiner Glücksfall, so schien es, rettete sie aus ihrer misslichen Lage, vielleicht war es auch das Nicken eines mitleidigen Engels, denn vor dem Hotel hielt ein glänzender, geschlossener Dampfwagen, und sein blau gekleideter Heizer sprang herunter, um den Tritt an seinem Scharnier herunterzuklappen. Dann öffnete er den Schlag und heraus kam ein übermütiger Schwarm angetrunkener Franzosen in scharlachrot gefütterten Umhängen, mit Brokatwesten und quastenbesetzten Abendspazierstöcken – und zwei von ihnen hatten Frauen bei sich.
Sofort raffte Sybil ihren Rock und lief auf das Gefährt zu. Beim Überqueren der Straße hatte sie den großen, schimmernden Kutschenaufbau des Dampfwagens zwischen sich und dem Nachtportier. Dann ging sie einfach um das Fahrzeug herum, vorbei an den hohen Holzspeichenrädern mit ihren Gummireifen, und schloss sich kühn der Gruppe an. Die Franzosen parlez-vousten miteinander, strichen sich die Schnurrbärte und gackerten und schienen sie gar nicht zu bemerken. Fromm lächelte sie vor sich hin und suchte die Nähe eines hochgewachsenen Mannes, der am meisten betrunken zu sein schien. Sie wankten die Marmorstufen hinauf, und der lange Franzose klatschte dem Nachtportier mit der nachlässigen Unbekümmertheit eines Mannes, der nicht weiß, was Geld ist, eine Pfundnote in die Hand. Der Nachtportier sperrte die Augen auf und salutierte mit der Hand an seinem bortenbesetzten Hut.
Und Sybil war sicher drinnen. Zusammen mit den plappernden Franzosen schritt sie über polierten Marmor zum Empfang, wo sie sich die Schlüssel geben ließen und die gebogene Treppe hinaufstapften, gähnend und schwatzend, während Sybil am Tresen zurückblieb.
Der Angestellte, des Französischen mächtig, schmunzelte über etwas, das er aufgeschnappt hatte. Dann bewegte er sich hinter dem Mahagonitresen seitwärts zu Sybil und lächelte ihr zu. »Wie kann ich ihnen behilflich sein, Madame?«
Die Worte kamen angestrengt und stoßweise, zuerst beinahe stammelnd. »Könnten Sie mir bitte sagen, ob ein Mr. Michael … oder vielmehr, ist General Sam Houston noch hier?«
»Jawohl, Madame. Ich sah General Houston früher am Abend. Er befindet sich aber gegenwärtig in unserem Rauchzimmer … Vielleicht könnten Sie eine Botschaft hinterlassen?«
»Rauchzimmer?«
»Ja – dort drüben, hinter dem Akanthaus.« Der Angestellte nickte zu einer massiven Tür im Winkel der Hotelhalle. »Unser Rauchzimmer ist selbstverständlich nicht für die Damen … Entschuldigen Sie, Madame, aber Sie scheinen ein wenig bekümmert. Wenn die Angelegenheit wichtig ist, sollte ich vielleicht einen Pagen schicken.«
»Ja«, sagte Sybil, »das wäre wundervoll.« Der Angestellte brachte ihr gefällig ein Blatt beigefarbenes Hotelbriefpapier und bot ihr seinen Füllfederhalter an.
Sie schrieb hastig, faltete die Nachricht, schrieb MR. MICHAEL RADLEY auf die Rückseite. Der Angestellte läutete eine Handglocke, quittierte ihren Dank mit einer Verbeugung und wandte sich wieder
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