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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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als sie zu Toby hinuntersah, der sich zu ihren Füßen räkelte, wurde sie traurig und kam sich wie eine Verräterin vor, weil sie ihn verließ.
    Mit diesem Gedanken kamen Gedanken an Radley. Plötzlich war sie ganz und gar überzeugt von seiner Falschheit.
    »Er wird kommen«, flüsterte sie aufgewühlt. Sie stellte die Lampe auf den schmalen Kaminsims und legte die gefaltete Nachricht daneben.
    Auf dem Kaminsims lag eine flache Blechschachtel, bunt bedruckt mit dem Namen eines Tabakhändlers am Strand. Sie wusste, dass in der Schachtel Orientzigaretten waren. Einer von Hettys jüngeren Herren, ein Medizinstudent, hatte sie einmal gedrängt, die Gewohnheit des Rauchens anzunehmen. Sybil mied im Allgemeinen Medizinstudenten, denn sie brüsteten sich meist mit studierten Schweinereien. Aber jetzt, im Griff einer mächtigen nervösen Unruhe, öffnete sie die Schach tel, nahm eine der ovalen Zigaretten heraus und schnüffelte ihr würziges Aroma.
    Mr. Stanley, ein Rechtsanwalt und wohlbekannt in Halbweltkreisen, hatte unaufhörlich Zigaretten geraucht. Während seiner Bekanntschaft mit Sybil hatte er häufig bemerkt, dass eine Zigarette das Richtige sei, um die Nerven eines Spielers zu stählen.
    Sybil holte die Streichhölzer, steckte die Zigarette zwischen die Lippen, wie sie es bei Stanley gesehen hatte, und dachte daran, den Schwefelkopf abbrennen zu lassen, bevor sie die Flamme an das Zigarettenende hielt. Zögernd zog sie an der Zigarette und wurde mit einer scharf beißenden Portion abscheulichen Rauches belohnt, der sie wie eine Schwindsüchtige husten ließ. Außer Atem und mit tränenden Augen, war sie nahe daran, das Ding wegzuwerfen.
    Sie stand vor dem Kamin und zwang sich, weiterzurauchen, zog in kurzen Abständen an der Zigarette und schnippte mit der Geste, die sie bei Stanley gesehen hatte, blassgraue Asche auf die Kohlen. Es war kaum erträglich, fand sie, und wo blieb der gewünschte Effekt? Auf einmal war ihr schlecht, Übelkeit wühlte in ihrem Magen, ihre Hände wurden eiskalt. Mit einem neuerlichen Hustenanfall ließ sie die Zigarette auf die Kohlenglut fallen, wo sie aufflammte und rasch verzehrt wurde.
    Schmerzlich wurde ihr das Ticken des Weckers bewusst.
    Big Ben begann, die Mitternachtsstunde zu verkünden.
    Wo blieb Mick?
    Sie erwachte im Dunkeln, erfüllt von namenloser Angst. Dann fiel ihr Mick ein. Die Lampe war ausgegangen, die Kohlenglut erloschen. Sie sprang auf, tastete nach den Zündhölzern und tappte durch das Zimmer zur Kommode, geleitet vom blechernen Ticken des Weckers.
    Als sie ein Zündholz anriss, schien das Zifferblatt im schwefligen Aufflammen zu verschwimmen.
    Halb zwei.
    War er gekommen, als sie geschlafen hatte? War er, als sein Klopfen ohne Antwort geblieben war, ohne sie fortgegangen? Nein, nicht Mick. Er hätte Mittel und Wege gefunden, sie zu wecken oder hereinzukommen, wenn er wollte. Hatte er sie dann getäuscht? Waren seine Versprechungen nur leere Worte für ein törichtes Mädchen gewesen, das ihnen vertraut hatte?
    Eine eigenartige Ruhe überkam sie, eine grausame Klarheit. Sie erinnerte sich des Abreisedatums von der Dampferfahrkarte. Er würde erst spät am morgigen Tag von Dover ablegen, und es schien unwahrscheinlich, dass er und General Houston nach einem wichtigen Vortrag mitten in der Nacht von London abreisen würden. Also musste sie zu Grand’s Hotel gehen, Mick aufsuchen, ihn zur Rede stellen und bitten, mit Erpressung und Bloßstellung drohen, was immer sich als notwendig erweisen sollte.
    Was sie an Bargeld hatte, war in ihrem Muff. Bei Goodman’s Yard war ein Droschkenstand. Dorthin würde sie jetzt gehen und einen Droschkenkutscher aufrütteln, dass er sie zum Piccadilly bringe.
    Toby miaute einmal jämmerlich, als sie die Tür hinter sich schloss. Im Dunkeln stieß sie sich schmerzhaft das Schienbein an Cairns angekettetem Fahrrad.
    Sie hatte die halbe Strecke zu Goodman’s Yard zurückgelegt, als ihr der Mantelsack einfiel, aber es gab jetzt kein Zurück.
    Der Nachtportier des Grand’s Hotel war untersetzt und schnurrbärtig, hatte kalte Augen und ein steifes Bein; er würde Sybil gewiss nicht einlassen, nicht wenn er es verhindern konnte. Sie hatte ihn schon aus einem Block Entfernung eingeschätzt, als sie ihrer Droschke entstiegen war – ein großer, goldbetresster Popanz, der breitbeinig auf den Marmorstufen unter den großen Lampen in Delfinform Wache hielt. Sie kannte ihre Nachtportiers gut genug, denn sie spielten eine größere Rolle

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