Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
unter ihrem Fuß, und sie blickte hinunter und sah eine offene Brieftasche aus rotem Maroquin mit zwei Schiffskarten in einer vernickelten Klemmfeder. Sie bückte sich und hob sie auf.
»Helfen Sie mir auf die Beine«, verlangte Houston mit gekräftigter Stimme, die bereits von Ungeduld und Gereiztheit gefärbt war. »Wo ist mein Stock? Wo ist Radley?«
Der Raum schien um sie zu schwanken, wie ein Schiff auf See, aber sie kam zur Tür, öffnete sie, trat hinaus, schloss sie hinter sich und schritt wie eine junge Frau von Stand ohne übermäßige Eile weiter durch die gasbeleuchteten und absolut achtbaren Korridore von Grand’s Hotel.
Der Kopfbahnhof der South-Eastern Railway unweit der London Bridge war eine riesige zugige Halle aus Eisenträgern und rußigem Glas. Quäker gingen die Bankreihen auf den Bahnsteigen entlang und boten den auf ihre Züge Wartenden ihre Traktate an. Irische Soldaten in roten Waffenröcken, die Augen blutunterlaufen vom Gin der vergangenen Nacht, bedachten die glatt rasierten Missionare mit finsteren Blicken. Die französischen Reisenden schienen alle mit Ananas heimzufahren, süßer exotischer Beute aus dem Londoner Hafen. Sogar die rundliche kleine Schauspielerin, die Sybil gegenübersaß, hatte ihre Ananas, deren stachlige harte Blätter aus einem zugedeckten Korb zu ihren Füßen hervorlugten.
Der Zug flog durch Bermondsey und hinaus durch kleine Vorstadtstraßen mit neuen Ziegelhäusern, roten Dächern. Gemüsegärten, Schutthalden, Ödland. Ein Tunnel.
Die Dunkelheit um sie roch nach verbranntem Schießpulver.
Sybil schloss die Augen.
Als sie sie wieder öffnete, sah sie Krähen über einem grasbewachsenen Höhenzug fliegen, und die Drähte der Telegrafenleitungen gingen in den Intervallen zwischen den Masten vor dem Zugfenster auf und nieder, tanzten im Wind ihrer Fahrt nach Frankreich.
Die Daguerreotypie, heimlich aufgenommen von einem Beamten der Abteilung für Öffentliche Moral der Sûreté Générale am 30. Januar 1855, zeigt eine junge Frau an einem Tisch auf der Terrasse des Café Madeleine am Boulevard Malesherbes Nr. 4. Die Frau sitzt allein da und hat eine Teekanne und -tasse vor sich. Die Auswertung des Bildes zeigt bestimmte Einzelheiten der Kleidung: Bänder, Rüschen, einen Kaschmirschal, Handschuhe, Ohrringe, eine aufwendig gearbeitete Haube. Die Kleidung der Frau ist französischen Ursprungs und neu sowie von hoher Qualität. Ihr Gesicht, durch die lange Belichtungszeit etwas verschwommen, wirkt ernst, nachdenklich.
Die Auswertung der Hintergrunddetails zeigt das Büro der Compagnie Sud Atlantique des Transportes Maritimes, Boulevard Malesherbes Nr. 3. Das Schaufenster enthält ein großes Modelldampfschiff mit drei Schornsteinen, ein französisches Passagier- und Frachtschiff für den transatlantischen Kolonialhandel. Ein gesichtsloser älterer Mann, augenscheinlich ein zufälliger Passant, scheint versunken in die Betrachtung des Schiffsmodells; seine einsame Gestalt hebt sich darum von den schattenhaften Schemen der vorbeieilenden Pariser Straßenpassanten ab. Er ist barhäuptig; seine Schultern hängen herab, er stützt sich schwer auf einen Spazierstock aus billigem Rattan. Er weiß von der Nähe der jungen Frau so wenig wie sie von seiner.
Sie ist Sybil Gerard.
Er ist Samuel Houston.
Ihre Wege führen sie für immer auseinander.
ZWEITE ITERATION
Derbytag
E r ist mitten im Schritt erstarrt, gerade im Begriff, sich diagonal durch die Festtagsmenge zu arbeiten. Der Aufnahmewinkel hat einen Teil seines Gesichts eingefangen: hohe Backenknochen, ein dichter, dunkler, kurz geschnittener Bart, das rechte Ohr, und zwischen dem Mantelkragen aus Cordsamt und der gestreiften Mütze eine losgelöst herabhängende Haarlocke. Dunkle Hose, eingeknöpft in lederne Schuhgamaschen über genagelten Wanderstiefeln; diese sind bis zu den Knien gesprenkelt mit dem kalkigen Lehm Surreys. Die linke Achselklappe seines abgetragenen Wettermantels ist über den Tragriemen eines Militärfeldstechers geknöpft. In der Wärme hängt der Mantel offen und zeigt glänzende, kräftige Messingknöpfe. Die Hände des Mannes stecken tief in den Taschen des langen Mantels.
Sein Name ist Edward Mallory.
Er wanderte durch den lackierten Glanz von Kutschen, deren Zugpferde geräuschvoll das Gras am Wegrand abweideten, Scheuklappen vor den Augen, inmitten von Kindheitsgerüchen nach Lederzeug, Pferdeschweiß und Rossäpfeln. Seine Finger machten Inventur vom Inhalt seiner verschiedenen
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