Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
konnte sich solch ein Mann verbergen, sogar in London, sogar inmitten der zerlumpten Horden amerikanischer Flüchtlinge?
»Du sagst, er sei betrunken?«, fragte der Texaner irgendwann.
Sybil schrak zusammen. »Wie?«
»Houston.«
»Oh. Ja, im Rauchzimmer. Sehr betrunken.«
»Das wird dann sein letzter Rausch sein. Er allein?«
»Er …« Mick. »Ein großer Mann ist bei ihm. Ich kenne ihn nicht.«
»Mit einem Bart? Gebrochenem Arm?«
»Ich … Ja.«
Er machte ein saugendes Geräusch zwischen den Zähnen, dann knarrte Leder, als er mit den Achseln zuckte.
Ein neues Geräusch zu Sybils Linker, wo die Tür war, ließ ihren Atem stocken. Im matten Lichtschein des verhängten Fensters sah sie die schimmernden Facetten des Türknopfes aus geschliffenem Glas in Bewegung. Der Texaner sprang von seiner Sessellehne auf.
Mit einer Hand verschloss er ihr den Mund, mit der anderen hielt er das große Messer vor sie, ein grässliches Ding wie ein verlängertes Fleischerbeil, das in einer scharfen Spitze aus lief. In der Mitte des Messerrückens verlief eine Messingleiste, und da die Klinge nur einige Fingerbreit vor ihren Augen war, sah sie kleine Kerben und andere Gebrauchsspuren in dem Messing. Und dann ging die Tür auf, und Mick schlüpfte geduckt herein, Kopf und Schultern von der Korridorbeleuchtung klar umrissen.
Sie musste mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen sein, als der Texaner sie beiseitestieß, denn plötzlich fand sie sich auf den Knien wieder, die Krinoline zusammengedrückt unter ihr, und sah den Mann, wie er Mick gegen die Wand und aufwärts stieß, eine einzige stählerne Kralle von einer Hand um Micks Gurgel. Micks Absätze hämmerten einen verzweifelten Trommelwirbel gegen die Wandverkleidung – bis die lange Klinge zustieß, herumgedreht wurde, wieder zustieß und das Zimmer mit dem heißen Blutgeruch der Butcher Row füllte.
Und alles, was danach in diesem Zimmer geschah, war für Sybil ein Traum, oder ein Schauspiel, das sie sah, oder eine Kinotrop-Schau, ausgeführt mit so vielen kleinen und geschickt eingesetzten Teilen, dass die Wirklichkeit verschwamm. Denn der Texaner, nachdem er Mick still zu Boden hatte gleiten lassen, schloss die Tür und sperrte sie wieder zu. Seine Bewegungen waren ohne Eile und methodisch.
Sybil schwankte, wo sie kniete, sank dann gegen die Wand hinter dem Schreibtisch. Mick wurde in die tiefere Dunkelheit neben dem Kleiderschrank geschleift; seine Absätze kratzten über den Parkettboden, zogen Linien durch den Teppichflor. Der Texaner kniete über ihm – Kleider raschelten, das Päckchen Lochkarten aus seiner Tasche wurde beiseitegeworfen, Wechselgeld klimperte, eine einzelne Münze rollte über den Hartholzboden …
Und von der Tür kam ein Kratzen, das Knirschen von Metall – die Geräusche eines Betrunkenen, der ein Schlüsselloch sucht.
Houston stieß die Tür weit auf, tappte schwankend ins Zimmer, auf seinen dicken Stock gestützt. Er rülpste gewaltig und rieb die Stelle seiner alten Verletzung. »Leck mich am Arsch«, sagte er, heiser vom Rauch, bekam auf einmal so stark Schlagseite, dass er sich nur mühsam mit dem Stock abstützen und auf den Beinen halten konnte. »Radley? Komm heraus, du kleiner Welpe.« Er tappte auf den Schreibtisch zu, und Sybil zog schnell ihre Finger zurück, um sie vor dem Gewicht seiner Stiefel zu retten.
Der Texaner schloss die Tür.
»Radley!«
»’n Abend, Sam.«
Ihr Zimmer über dem Hirschen schien so fern wie die ersten Kindheitserinnerungen, hier im Schlachthausgeruch, in dieser Dunkelheit, wo Riesen sich bewegten. Houston taumelte plötzlich, um mit dem Stock die Vorhänge zurückzuschlagen, riss sie auf, und Gaslicht von der Straße erleuchtete die Eisblumen an den durch Längspfosten geteilten Fensterscheiben, beleuchtete das Halstuch des Texaners und die grimmigen Augen darüber, kalt und erbarmungslos wie Wintersterne. Bei seinem Anblick wankte Houston zwei Schritte zurück, und die gestreifte Decke glitt von seinen Schultern. Seine Orden glänzten und zitterten mit den angestrengten Atemzügen der mächtigen Brust.
»Die Ranger schicken mich, Sam.« Micks kleine Pfefferstreuer-Pistole sah in der Hand des Texaners wie ein Spielzeug aus; die gebündelten Läufe blinkten, als er zielte.
»Wer bist du, mein Sohn?« Auf einmal war in seiner tiefen Stimme keine Spur von Trunkenheit mehr auszumachen. »Wallace? Nimm das Halstuch ab! Sieh mir ins Gesicht, von Mann zu Mann …«
»Du gibst keine Befehle mehr,
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