Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
dass er nicht wusste, wovon sie redete; und darüber schien er nicht glücklich zu sein. »Wie nennst du dich?«
»Sybil Jones.« Sie holte Luft. »Ich bin eine britische Staatsangehörige!«
»Gott, nein«, sagte der Mann. Er schnalzte mit der Zunge.
Sein maskiertes Gesicht ließ keine Gemütsregung erkennen. Auf einem Streifen blasser, glatter Haut quer über seine Stirn glänzte Schweiß. Anscheinend hatte er noch vor Kurzem einen Hut getragen. Er kam jetzt näher, nahm ihr die Lampe ab und drehte den Docht herunter. Seine Finger, als sie ihre Hand streiften, waren trocken und hart wie Holz.
In der Dunkelheit war nur das Pochen ihres Herzens und die furchtbare Gegenwart des Texaners.
»Sie müssen sich einsam fühlen, hier in London«, platzte sie heraus, um die lähmende Stille zu unterbrechen.
»Vielleicht fühlt Houston sich einsam. Ich habe ein besseres Gewissen.« Schärfe kam in seine Stimme. »Hast du ihn schon gefragt, ob er sich einsam fühlt?«
»Ich kenne ihn nicht persönlich«, beharrte sie.
»Du bist hier. Eine Frau, die allein in sein Zimmer gekommen ist.«
»Ich kam wegen der Kinotrop-Karten. Gelochte Papierkarten sind das. Mehr ist nicht daran, ich schwöre es!« Keine Antwort. »Wissen Sie, was ein Kinotrop ist?«
»Eine weitere verdammte Maschine«, knurrte der Texaner in überdrüssigem Ton.
Stille.
»Lüg mich nicht an«, sagte er endlich. »Du bist eine Hure, das ist alles. Glaubst du, ich hätte noch nie eine Hure gesehen?«
Sie hörte ihn hinter seinem vorgebundenen Halstuch husten und schnauben. »Aber du siehst nicht übel aus«, meinte er. »In Texas könntest du heiraten. Von vorn anfangen.«
»Das wäre bestimmt wundervoll«, sagte Sybil.
»Es gibt nicht genug weiße Frauen im Land. Such dir einen anständigen Mann statt eines Zuhälters.« Er hob sein Tuch und spuckte auf den Boden. »Kann Zuhälter nicht ausstehen«, erklärte er. »Genauso wenig wie Indianer. Oder Mexikaner. Mexikanische Indianer … Französisch-mexikanische Indianer mit Gewehren, dreihundert, vierhundert Mann stark. Beritten, haben diese Repetiergewehre, wahre Teufel in Menschengestalt.«
»Aber die Texaner sind Helden«, sagte Sybil, verzweifelt bemüht, sich eines Namens aus Houstons Ansprache zu erinnern. »Ich hörte von … Alamo.«
»Goliad«, flüsterte die Stimme des Fremden. »Ich war in Goliad dabei.«
»Davon habe ich auch gehört«, sagte Sybil rasch. »Es muss ruhmvoll gewesen sein.«
Der Texaner räusperte sich, spuckte wieder auf den Teppich. »Kämpften zwei Tage lang. Kein Wasser. Oberst Fannin kapitulierte. Sie nahmen uns gefangen, gaben uns Wasser, alle Annehmlichkeiten, höflich, wie man es sich nur wünschen kann. Am nächsten Tag führten sie uns aus der Stadt und schossen uns kaltblütig nieder. Reihten uns auf und massakrierten uns.«
Sybil sagte nichts.
»Massakrierten die Überlebenden von Alamo. Verbrannten die Toten … massakrierten die Meir-Expedition. Ließen sie Bohnen aussuchen. Kleine Lotterie mit einem Tongefäß; wer eine schwarze Bohne herauszog, wurde erschossen. Das sind die Mexikaner.«
»Mexikaner«, wiederholte sie.
»Komantschen sind schlimmer.«
Von irgendwo drang der Schrei einer Reibungsbremse durch die Nacht, gefolgt von einem Schlag und dem Rasseln von Eisenbahnkupplungen …
Schwarze Bohnen. Goliad. Ihr Kopf war ein einziges Durcheinander. Bohnen und Massaker, und dieser Mann, dessen Haut wie Leder war. Er stank nach Schweiß wie ein Erdarbeiter. Unten in der Neal Street hatte sie einmal zwei Pence bezahlt, um ein Diorama von Amerika zu sehen, vielmehr von einer Felswüste, einem Albtraum von kahlen Ebenen und tief eingefressenen Schluchten. Der Texaner sah aus, als wäre er in so einer Gegend geboren, und nun erst wurde ihr klar, dass all die Wild nis in Houstons Ansprache, all die Orte mit so schwer verständ lichen ausländischen Namen wirklich existierten und von Gestalten wie diesem Halsabschneider hier bewohnt waren. Und Mick hatte gesagt, dass Houston einmal ein Land gestohlen habe, und dieser hier war ihm nun nachgereist, ein Racheengel. Sie unterdrückte eine Aufwallung hysterischer Heiterkeit.
Nun fiel ihr die alte Frau ein, die in Whitechapel Steinöl verkauft hatte, und der eigenartige Blick, mit dem sie Micks Fragen quittiert hatte. Arbeiteten andere mit dem Racheengel von Goliad zusammen? Wie hatte es einer so seltsamen Gestalt gelingen können, Grand’s Hotel zu betreten und in einen verschlossenen Raum einzudringen? Wo
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