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Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)

Titel: Die Differenzmaschine: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Gibson , Bruce Sterling
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aus der Kurve, beschleunigte der Zephyr zu unmöglicher Geschwindigkeit. Mit unglaublicher, butterweicher Leichtigkeit glitt er an den anderen Dampfwagen vorüber, wie ein schleimiger Kürbiskern, der zwischen Daumen und Zeigefinger herausgequetscht wird. In der nächsten Kurve, welche die halbe Meile markierte, die er mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durchmaß, legte er sich deutlich sichtbar nach außen, sodass die inneren Räder abhoben. Am Beginn der Zielgeraden traf er eine leichte Unebenheit, und das ganze Fahrzeug mit den großen Antriebsrädern verlor einen Augenblick lang die Bodenberührung. Dann folgte ein hartes Aufsetzen in einer Staubwolke, begleitet von metalli schem Kreischen; erst in diesem Augenblick bemerkte Mallory, dass die große Menschenmenge auf den Tribünen totenstill geworden war.
    Kein Pieps war vom Publikum zu vernehmen, als der Zephyr über die Ziellinie zischte. Er bremste ab, schwänzelte und rumpelte über die ausgefahrenen Radspuren der Konkurrenten. Und kam zum Stillstand.
    Volle vier Sekunden vergingen, bevor der verblüffte Rennleiter daran dachte, das Flaggenzeichen zu geben. Die anderen Dampfwagen umrundeten noch die entfernte Kurve, volle zweihundert Schritte zurück.
    Plötzlich entrang sich der Zuschauermenge ein verblüffter Aufschrei – darin war nicht so sehr Freude oder Anerkennung, sondern vielmehr ungläubiges Staunen und sogar ein verquerer Zorn.
    Henry Chesterton stieg aus dem Zephyr. Er lockerte sein Halstuch, lehnte sich entspannt an das schimmernde Chassis seines Dampfwagens und beobachtete mit kühler Überlegenheit, wie die anderen Dampfwagen schwerfällig über die Ziellinie schnauften. Bis zu ihrer Ankunft im Ziel schienen sie Jahrhunderte gealtert. Sie waren, begriff Mallory, zu Relikten geworden.
    Er griff in seine Tasche. Die blauen Wettscheine waren da, in Sicherheit. Ihre materielle Beschaffenheit hatte sich nicht im Mindesten verändert, aber jetzt bedeuteten diese kleinen blauen Zettel unfehlbar den Gewinn von vierhundert Pfund. Nein, von fünfhundert Pfund insgesamt – von denen er fünfzig dem siegreichen Michael Godwin zu geben hatte.
    Mallory hörte eine Stimme in den Ohren, inmitten des wachsenden Tumultes der Menge. »Ich bin reich«, bemerkte die ruhige Stimme. Es war seine eigene.
    Er war reich!
    Dieses Bild ist eine Daguerreotypie von der Art, wie die britische Aristokratie sie in kleinen Freundes- und Bekanntenkreisen zu verteilen pflegte. Der Fotograf mag Prinzgemahl Albert gewesen sein, ein Mann, dessen viel publiziertes Interesse an wissenschaftlichen Entwicklungen ihn zum – anscheinend echten – Intimus der Elite des Landes gemacht hatte, soweit sie sich zu den Anhängern der Radikalen Partei zählte. Die Abmessungen des Raumes und die üppigen Draperien im Hintergrund legen nahe, dass die Aufnahme im fotografischen Salon gemacht worden ist, den Prinz Albert im Palast Windsor unterhalten hat.
    Die dargestellten Frauen sind Lady Ada Byron und ihre Gefährtin und sogenannte Anstandsdame, Lady Mary Somerville. Lady Somerville, Autorin des Buches Über den Zusammenhang der Naturwissenschaften und Übersetzerin von Laplaces Himmelsmechanik , hat den resignierten Ausdruck einer Frau, die sich an die Launen und Unberechenbarkeiten ihrer jüngeren Gefährtin hat gewöhnen müssen. Beide Frauen tragen vergoldete Sandalen und weiße Gewänder ähnlich einer römischen Toga, aber stark beeinflusst vom französischen Klassizismus. Es sind die Kleidungsstücke weiblicher Adepten der Gesellschaft des Lichtes, des geheimen inneren Kerns und internationalen Propagandaarmes der Industriellen Radikalen Partei. Die matronenhafte Mrs. Somerville trägt auch eine Kopfbinde mit astronomischen Symbolen, ein geheimes Zeichen des hohen Postens, den diese femme savante in den Kreisen der europäischen Wissenschaft einnimmt.
    Ada Byron, deren Arme bis auf einen Siegelring am rechten Zeigefinger frei von Schmuck sind, setzt einen Lorbeerkranz auf die Stirn einer Marmorbüste Isaak Newtons. Trotz des sorgfältigen Arrangements schmeichelt die fremdartige Kleidung der Lady Ada nicht, und ihr Gesicht verrät Anspannung und Anzeichen von Müdigkeit. Lady Ada war im Juni 1855, als diese Daguerreotypie entstand, einundvierzig Jahre alt. Sie hatte kurz zuvor eine große Summe Geldes beim Derby verloren, obwohl ihre Spielverluste, die all ihren Freunden wohlbekannt waren, auch zur Tarnung des Verlustes noch höherer Summen zu dienen schienen, die ihr sehr

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