Die Differenzmaschine: Roman (German Edition)
waren namenlos; unter jedem stand lediglich die Bürger-Nummer. »Ich hatte nicht Dutzende von Gesichtern erwartet«, sagte Mallory.
»Mit besseren anthropometrischen Parametern hätten wir die Auswahl präziser treffen können«, sagte Tobias. »Aber lassen Sie sich einfach Zeit, Sir, und sehen Sie sich jeden genau an. Wenn wir ihn haben, ist er hier.«
Mallory starrte die finster blickenden Reihen der nummerierten Taugenichtse an, von denen nicht wenige beunruhigend missgestaltete Köpfe aufwiesen. Mit großer Klarheit erinnerte er sich an das Gesicht des Zuhälters, obwohl es von Wut verzerrt gewesen war, blutigen Speichel zwischen den Lippen. Der Anblick dieses Gesichts stand für immer vor seinem inneren Auge, so lebendig wie die Rückenwirbel des Brontosaurus, als er sie zuerst gesehen hatte, eingebettet in den Schieferton von Wyoming. In einem langen Augenblick dämmernder Erkenntnis hatte er durch diese grau-braunen Steinklumpen gesehen und den immanenten Glanz seines eigenen Ruhmes wahrgenommen, seiner künftigen Berühmtheit. In gleicher Weise hatte er in den Zügen des Strolches eine tödliche Herausforderung gesehen, die sein Leben verwandeln konnte.
Aber keines dieser dumpf und störrisch dreinblickenden Gesichter passte in seine Erinnerung. »Könnte es möglich sein, dass Sie diesen Mann gar nicht haben?«
»Vielleicht hat Ihr Mann keine Vorstrafen«, sagte Tobias. »Wenn er als Gesetzesbrecher noch nicht in Erscheinung getreten ist, wird es schwierig. In diesem Fall könnten wir die Karte noch einmal zur Überprüfung der allgemeinen Bevölkerung durchlaufen lassen. Aber das würde uns Wochen von Maschinenzeit kosten und eine Sondergenehmigung von denen da oben erfordern.«
»Warum würde es so lange dauern, bitte?«
»Dr. Mallory, wir haben alle Bürger des Landes in unseren Unterlagen. Jeden, der sich jemals um Arbeit bemüht, Steuern bezahlt, einen Pass beantragt hat oder festgenommen worden ist.« Mallory sah, dass der junge Mann bemüht war, ihm zu helfen. »Ist er vielleicht Ausländer?«
»Ich bin sicher, dass er Engländer war, und ein Spitzbube. Er war bewaffnet und gefährlich. Aber ich sehe ihn hier einfach nicht.«
»Vielleicht ist es eine unzureichende Ähnlichkeit, Sir. Die kriminellen Schichten, müssen Sie wissen, verziehen gern die Gesichter, wenn sie fürs Verbrecheralbum abgelichtet werden. Pusten die Backen auf, stecken sich Watte in die Nasen und dergleichen. Ich bin überzeugt, dass er sich unter diesen Gesichtern befindet, Sir.«
»Ich glaube es nicht. Gibt es eine andere Möglichkeit?«
Tobias setzte sich niedergeschlagen hin. »Das ist alles, was wir haben, Sir. Es sei denn, Sie möchten Ihre Beschreibung ergänzen oder abändern.«
»Könnte jemand sein Porträt entfernt haben?«
Tobias blickte erschrocken auf. »Das wäre unerlaubtes Beseitigen amtlichen Archivmaterials, Sir. Ein Vergehen, das strenger Bestrafung unterliegt. Ich bin sicher, dass keiner von unseren Leuten so etwas tun würde.« Eine bedeutungsschwere Pause folgte.
»Aber?«, sagte Mallory dann.
»Nun, die Akten sind sakrosankt, Sir. Deshalb werden sie hier von uns verwaltet, wie Sie wissen, und nicht in einem Privatarchiv. Aber es gibt … äh … gewisse hochgestellte Persönlichkeiten außerhalb der Behörde – Männer, die den Sicherheitsbelangen des Reiches dienen. Wenn Sie wissen, welche Herren ich meine.«
»Ich glaube nicht, dass ich es weiß«, sagte Mallory.
»Einige wenige Männer in hohen, verantwortungsvollen Positionen, die das Vertrauen höchster Stellen genießen und deren Diskretion über jeden Zweifel erhaben ist«, präzisierte Tobias. Er blickte zu den beiden anderen Männern hinüber und fuhr mit halblauter Stimme fort: »Vielleicht haben Sie den Ausdruck ›das Sonderkabinett‹ gehört? Oder vielleicht ist Ihnen die Behörde der Geheimpolizei in der Bow Street ein Begriff …«
»Sonst noch jemand?«, fragte Mallory.
»Nun, natürlich die Königliche Familie. Schließlich sind wir Diener der Krone. Wenn Albert höchstselbst dem Innenminister Anweisung geben würde …«
»Wie steht es mit dem Premierminister? Lord Byron?«
Tobias antwortete nicht. Seine Miene hatte sich verhärtet.
»Eine müßige Frage«, sagte Mallory. »Vergessen Sie, dass ich sie stellte. Es ist eine Gewohnheit, die man als Gelehrter annimmt, wissen Sie – wenn ein Gegenstand mich interessiert, untersuche ich ihn von allen Seiten, bis zur Pedanterie. Aber es hat hier keine Relevanz.« Mallory
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