Die Dilettanten
zustimmen, bekommt Rot-Grün die Reform nur wegen des Schwänzens von gut zwei Dutzend Unionsleuten durch den Bundestag.
Anschließend aber geht der Ärger erst richtig los: Ob Zahnersatz oder Arzneimittelzuzahlung, ob Definition von »chronisch krank« oder Durchführung der Praxis- und Krankenhausgebühr: Fast alles muss nachgebessert werden. Schmidt selbst räumt »Detailprobleme« ein. Und sogar SPD-Fraktionschef Michael Müller spottet: »Durch die Fülle der Aktivitäten passieren mehr handwerkliche Fehler als sonst«. Schmidt hätte vorher in Planspielen testen sollen, »ob alles funktioniert«. 252 Selbst über Schmidts Ablösung wird in der SPD offen diskutiert.
Im Juni 2004 schließlich schwingt sich Ulla Schmidt zur Frontkämpferin gegen ihr eigenes Meisterwerk auf: »Ministerin rüttelt an Reform«, feixt
Spiegel Online
.
Diesen lehrbuchmäßigen Pfusch überbietet Ulla Schmidt noch mit der Gesundheitsreform vom Februar 2007, besonders mit dem neuen
Gesundheitsfonds
. Hier nur die markantesten Beispiele: Seit 2009 kassieren die Krankenkassen infolge eines Verteilerschlüssels mit dem pseudowissenschaftlichen Namen
Morbiditäts-RSA
253 aus dem neuen Gesundheitsfonds umso mehr, je kränker ihre Patienten auf dem Papier sind. Umgekehrt aber lohnt es sich ebenso, an der Behandlung zu sparen. Für gesetzlich Versicherte bedeutet das: Sie müssen für schlechtere Leistungen mehr zahlen. Die Ausgaben der Krankenkassen für Arzneimittel schnellen allein von 2005 bis 2008 um gigantische 20,9 Prozent von 25,9 auf über 31 Milliarden Euro nach oben. Und das vor allem, weil Ulla Schmidt einmal mehr keine Höchstgrenzen für Arzneimittelpreise durchsetzen konnte – wieso eigentlich nicht? – und im September 2008 kleinlaut gestehen muss, »dass wir in Deutschland zu hohe Preise zahlen,dass Einsparpotenziale da sind«. 254 Dies aber steigert nicht nur die Kassenbeiträge für die Patienten – das ginge ja noch –, sondern damit auch die »Lohnnebenkosten«. Zudem kritisiert selbst Schmidts ehemaliger Vordenker, Staatssekretär Karl Lauterbach, die neue Honorarordnung des Gesundheitsfonds benachteilige die niedergelassenen Ärzte.
Zu Ulla Schmidt fällt einem unwillkürlich der französischmexikanische Film
La Chèvre
von 1981 ein, in dem Richard Depardieu die liebenswerte Pechmarie Corynne vor dem alltäglichen Unheil bewahren soll – leider meist vergeblich … Um allerdings Missverständnisse zu vermeiden: Auch das permanente Desaster unterscheidet Ulla Schmidt in puncto Inkompetenz keineswegs von ihren Kabinettskollegen, und im Gegensatz zu denen scheint sie nicht an ihrem Sessel zu kleben. Schon kurz vor Weihnachten 2000 verriet sie dem
Spiegel
: »Was Neues anzufangen würde mir gar nix ausmachen.« 255
Marion Caspers-Merk (SPD), Politikmagistra, Parlamentarische Staatssekretärin für Gesundheit
Caspers-Merk »kann Politik«
Marion Caspers-Merk, geboren am 24. April 1955 in Mannheim, ist eine der letzten und verbissensten Verteidiger der Agenda 2010.
Seit 1972 ist sie in der SPD, von 1975 bis 1986 SPD-Ortsvereinschefin von March (Freiburg), seit 1980 Magistra, von 1980 bis 1990 im Gemeinderat March, von 1983 bis 1990 Ortschaftsrätin in March-Buchheim, 1993 bis 2003 im SPD-Kreisvorstand Lörrach, seit 1990 im Bundestag, seit 1997 im Fraktionsvorstand, ab Januar 2001 bis 2005 Drogenbeauftragte der Bundesregierung, ab Oktober 2002 Staatssekretärin für Gesundheit und Soziale Sicherung, seit 2005 für Gesundheit.
Für Caspers-Merk ist das Gesundheitswesen zwar ein Buch mit sieben Siegeln, aber sie hält das auch noch für normal und steht dazu. Auf der Fachtagung »Sozialpolitische Reformen, mediale Vermittlung und öffentliche Akzeptanz – zum Scheitern verurteilt?« am 26. Oktober 2006 im Bundespresseamt erklärt sie beim Thema Verständlichkeit der erneuten Gesundheitsreform auf die Frage, ob sie genau wisse, was der Risikostrukturausgleich ist: »Nein das weiß ich nicht. Ich muss es auch nicht wissen, denn ich kann Politik!« 256
Und Politik bedeutet für sie als Mitglied im wirtschaftsliberalen Scharfmacherclub
Seeheimer Kreis
vor allem blinde Verteidigung ihrer Ministerin und deren desaströser Reformen sowie des neoliberalen rot-grünen Erbes.
Dass Caspers-Merk selbst nach SPD-Verständnis auch nur im Entferntesten »links« wäre, sagen ihr weder Freund noch Feind nach: Als zum Beispiel der 45-köpfige SPD-Vorstand im Oktober 2007 die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I für Ältere
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