Die Dirne vom Niederrhein
das passiert?«
»Dieses Mädchen …«, stöhnte Sylar.
»Sie hat ihn niedergeschlagen, wohl während der Behandlung, und ist geflüchtet«, half Maximilian.
Das sowieso schon erhitzte Gesicht von Vikar Weisen wurde noch roter. Ganz nah kam er an den Arzt heran. Nur noch wenige Zoll trennten die beiden. »Welches Mädchen?«, zischte er durch zusammengebissene Zähne.
»Das du vor ein paar Tagen hast einliefern lassen.«
Innerhalb von wenigen Augenblicken verwandelte sich das sonst ebenmäßige Gesicht des Vikars in eine Maske des Zorns. Wutentbrannt donnerte er seine Faust auf den Schreibtisch, fing sich jedoch wieder und reichte dem Arzt ein Tuch, damit dieser es auf die Kopfwunde drücken konnte.
»Sie ist gefährlich, der Teufel hat von ihr Besitz ergriffen«, zischte er zu Sylar und Maximilian. »Man darf ihr kein Wort glauben, sie redet wirres Zeug, gepaart mit Lügen.« Nachdenklich fuhr er sich über das Kinn, wandte sich an Maximilian: »Junger Schmied, du musst sie finden.« Die Augen des Vikars brannten förmlich vor Eifer. Jedes seiner Worte betonte er. Grob packte er Maximilian an den Schultern, beschwor ihn mit fordernden Worten: »Sie wird sich irgendwo im Dorf versteckt halten. Versuch es bei dem verlassenen Bauernhof am nördlichen Ende, hinter der Kirche. Dort besaß ihr Vater seinerzeit Grund und Boden.« Der Vikar kam ganz nah an sein Ohr. »Du musst diese Bedrohung ausschalten, bring sie hierher zurück, und wenn das nicht möglich ist, treib ihr den Dämon aus und töte sie, bevor sie Unschuldige mit ins Verderben reißt.«
Maximilian musste die Worte im Geist wiederholen, um sicherzugehen, dass er diese Sätze wirklich vernommen hatte.
War der Vikar nicht ein Mann Gottes? Andererseits war es seine Aufgabe, die Menschen zu beschützen, und sollte dieses Mädchen wirklich dem Irrsinn verfallen sein, war ihr Tod die einzige Möglichkeit, die Bewohner der Stadt vor Unheil zu bewahren.
»Ich werde alles Nötige tun, Herr«, sagte Maximilian mit fester Stimme und eisigem Blick.
Der Vikar nickte mit offenem Mund. »Gut. Sehr gut. Glaub mir, wenn du diese Aufgabe für mich erledigst, wird es nicht zu deinem Schaden sein.«
Noch bevor Maximilian sich abwenden konnte, öffnete der Vikar eine Truhe. Dort waren allerlei Waffen zu finden, wie sie Maximilian früher hergestellt hatte. Vom Degen bis zum Messer stapelten sich die Hieb- und Stichwaffen aufeinander. Schnell hatte Vikar Weisen einen Dolch in Maximilians Hand gedrückt und zusätzlich noch den Schlüssel für die Haupttür.
»Den Dolch wirst du brauchen, Junge. Enttäusche mich nicht. Ich werde mit den Dorfbewohnern nachkommen. Und jetzt geh!«, eindringlich sah der Vikar ihn an, ein Klaps auf die Schulter folgte.
Maximilian verließ den Raum und spurtete durch die leeren Gänge des Klosters. Die Haupttür hatte er mit schnellen Handgriffen geöffnet, schließlich fand er sich auf dem Kopfsteinpflaster des Marktplatzes wieder. Ein kurzer Seitenblick zur Remigiuskirche musste genügen, um sich zu orientieren. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, als er die Kirche hinter sich ließ und durch enge verwinkelte Gassen jagte. Jetzt, da der Mond sein helles Licht auf Viersen warf und er das ganze Ausmaß der Zerstörung sehen konnte, wurde ihm speiübel. Während der wenigen Tage, als er im Kloster seinen Dienst verrichtet hatte, hatte er es nicht geschafft, die Stadt näher in Augenschein zu nehmen.
Viele Häuser waren abgebrannt, unbewohnt und ohne Nutzen. Kein Vergleich mehr zu dem Ort, in den er damals mit Vater und Lorenz gereist war, um Güter zu verkaufen. Die vormals schöne Stadt war nur noch ein rußiger Schatten ihrer selbst. Wenn es hier schon so aussah, wie hart musste es dann Kempen getroffen haben? Sein Schritt verlangsamte sich, als er an seine Eltern und Geschwister dachte.
Warum? Warum mussten Hunderttausende Menschen sterben, warum wurden ganze Landstriche verwüstet und ausgebrannt? Schlacht reihte sich an Raubzug, es folgten Feuersbrünste, Seuchen, Hunger und der Tod. Egal, was die europäischen Könige und Fürsten bezweckten, es wurde auf den Schultern der Bevölkerung ausgetragen.
Mit aller Macht verdrängte Maximilian diese Gedanken. Er hatte eine Aufgabe, nichts anderes zählte. Dabei verbat er sich jeden weiteren Blick auf die verbrannten Holzbalken, die wie schwarze Nadeln aus den Häuserfronten stachen. Endlich hatte er das nördliche Ende der Stadt erreicht. Keine Wachen waren mehr zugegen. Warum auch, hier war
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