Die Dirne vom Niederrhein
durchschritt, der zu Vikar Weisens Schreibstube führte. Maximilian folgte ihr. In der Schreibstube nahm sie auf der Bank Platz, auf der sonst immer er seiner Arbeit nachging, und blickte stoisch zu Boden. Erst als Vikar Weisen in den Raum trat, erhob sie ihr Gesicht.
»Senta, schön, dass du es dir noch überlegt hast«, begrüßte er sie mit strahlendem Lächeln.
Das Mädchen zog seine Nase hoch, nestelte an seinem zerschlissenen Umhang. Nach unendlich anmutenden Sekunden fiepte sie mit hauchdünner Stimme die Worte: »Welche Wahl ist mir denn geblieben?«
Der Vikar ließ laut Luft durch die Nase entweichen und wandte sich an Maximilian. »Ich danke dir, dass du die junge Dame sicher und gut behütet hierher gebracht hast. Leider muss ich dich noch bitten, sie zur zehnten Stunde in das Gasthaus zu bringen.« Dann drehte er sich zu dem Mädchen. Er ging einen Schritt auf sie zu und lehnte sich zu ihr herunter. »Ich habe mir erlaubt, dort für dich eine Unterkunft für die nächste Woche zu nehmen und die Rechnung aus meiner eigenen Geldbörse zu begleichen. Auch Nahrung und ansehnlichere Kleidung habe ich bereits dorthin bringen lassen.« Er versuchte ihren Blick einzufangen, sie wich jedoch aus. »Es wird dir also an nichts mangeln.«
Maximilian konnte förmlich spüren, wie viel Hass sich in diesem Mädchen angesammelt hatte. Wenn der Krieg einem alles nimmt, bleibt selbst in der Seele nicht mehr viel übrig. Dieses dürre, vom Hunger und den Entbehrungen der letzten Monate gebeutelte Mädchen war der traurige Beweis dafür.
»Aber natürlich, Herr«, antwortete Maximilian.
»Geh bis dahin auf deine Stube, dort kannst du dich ein wenig ausruhen.«
Sobald Maximilian auf den Gang getreten war, hörte er, wie der Schlüssel mehrmals gedreht wurde.
Er wollte nicht wissen, was in diesem Raum geschah. Früher hätte er jede Tat mit Argwohn beobachtet, die Ungerechtigkeit bekämpft. Aber hier hatte er ein neues Zuhause gefunden. Warum dieses zerstören? Es war nicht seine Aufgabe, über die Menschen zu urteilen. Und trotzdem keimten Zweifel in ihm auf. Erneut hallten die Worte Amelies in seinem Kopf wider. Mit aller Macht musste er diese Gedanken verdrängen.
Langsam schritt Maximilian die Gänge der Abtei entlang. Es dauerte wohl noch zwei Stunden, bis der Ostiarius zur zehnten Stunde läutete. Genug Zeit für ein kleines Nickerchen.
Als er sich auf das Bett fallen ließ, griff die Erschöpfung nach ihm und er sank in einen unruhigen Schlaf.
Ich tauche aus der Dunkelheit auf. Nur ein wenig, sodass ich sehen kann. Einen Augenblick später falle ich wieder in die alles umfassende Schwärze zurück. Meine Hände vermögen nichts anzufassen, meine Ohren kein Geräusch zu vernehmen. Ich werde müde, möchte schlafen und mich in der Finsternis ausruhen, am liebsten für immer. Ich sollte aufgeben, ich sollte loslassen – mir keine Gedanken mehr machen, was richtig oder falsch ist. Es wäre einfach, so unbeschreiblich einfach, jetzt nichts mehr zu tun, außer liegen zu bleiben und wegzusehen. Gerechtigkeit und Anstand brauche ich nicht mehr. Alle anerzogenen Werte kann ich vergessen und mit ihnen meine eigenen Sünden. Hier, in der Dunkelheit, ist alles einfach. Ich muss nur die Augen schließen.
Ein Fauchen lässt mich hochschrecken. Es hört sich an, als wäre es Meilen entfernt, und doch kann ich es vernehmen. Unendliche Überwindung kostet es mich, aufzustehen und dem Geräusch zu folgen. Irgendwann blitzen gelbe Augen aus der Nacht.
Was wollen diese leuchtenden Augen von mir? Warum zerren sie mich aus meinen Schlaf? Es tat gut, nichts zu sehen, von der Dunkelheit eingehüllt zu werden. Und jetzt werde ich aus ihr gerissen, nur weil funkelnde Augen aus der Nacht blitzen. Etwas zieht mich zu ihnen. Eine innere Stimme, die längst verloren geglaubt war. Hier in der Dunkelheit ist sie nicht mehr stumm, sie schreit mich an, brüllt, dass ich die Augen öffnen soll, dass ich handeln muss. Ich tauche auf – zumindest für einen Augenblick, will mich erneut aus der Schwärze ziehen.
Doch es ist zu schwer. Alles ist zu schwer. Ich lasse mich in die Dunkelheit sinken, schließe die Lider und halte mir die Ohren zu. Jetzt ist es ruhig und einfach. Es obliegt nicht mehr mir, Gerechtigkeit zu schaffen. Sollen es andere für mich tun.
Die gelben Augen kann ich nicht mehr sehen und auch das Fauchen ist verschwunden.
Schweißgebadet schreckte Maximilian auf. Was für ein sinnloser Traum. Mühselig raffte er sich auf
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