Die Dirne vom Niederrhein
die Tür. Durch das mit Eisen beschlagene Holz konnte Maximilian die kräftigen, sich entfernenden Schritte der Nonne ausmachen.
»Weißt du, mein Junge«, stöhnte der Vikar und ließ sich nachdenklich in seinen Stuhl fallen. »Mit der Gesundheit von Schwester Agathe scheint es nicht gut bestellt. Ich spreche seit Längerem mit Doktor Sylar darüber. Leider sind wir beide der Meinung, dass wir die Schwester auf kurz oder lang behandeln müssen. Sie zeigt immer mehr Anzeichen einer rasenden Besessenheit, von Wahn und Irrsinn.« Der Vikar fuhr sich durch die zerzausten Haare, richtete seine Kleidung. »Es ist ein Jammer, was aus ihr geworden ist.«
Für einen kurzen Moment machte sich Unsicherheit in Maximilian breit. »Darf ich Euch eine Frage stellen?«
»Jede, die du möchtest.«
»Drangen in den letzten Wochen Stimmen aus Eurer Stube? Ich meine, könnte sie recht haben?«
Großmütig breitete er die Hände aus. »Heute ja. Das war das einzige Mal, dass ich jemandem in der Nacht die Absolution erteilen musste. Bei der Dringlichkeit der Angelegenheit kannst du das sicherlich verstehen, du hast das Mädchen ja gesehen. Ich wusste, dass Schwester Agathe es nicht gutheißen würde und wollte dem Mädchen die Schmach ersparen, um Almosen bitten zu müssen. Ansonsten wäre ich längst im Bett oder arbeitete alleine, bis sich der Tag ankündigt.« Der Vikar ging zu der Tür, die von der Schreibstube direkt auf den schmalen Gang nach draußen führte. Langsam öffnete er sie. »Du siehst, alles Hirngespinste dieser Frau – ein weiterer Grund, ihre derzeitige Verfassung zu bezweifeln.«
Senta kauerte auf dem nackten Boden des Zwischenganges und hatte die Knie an ihren Körper gezogen. Sie war ganz still, als traue sie sich nicht, einen Mucks von sich zu geben, als wäre allein ihr Atmen zu laut.
»Bring sie bitte in den Gasthof. Du weißt, wo dieser zu finden ist?«
»Ja, Herr«, antwortete Maximilian.
Der Vikar nickte, ging zu dem Mädchen und beugte sich herab. »Und du behältst schön, was wir besprochen haben.« Dabei streichelte er ihre Wange, wandte sich anschließend um. »Eile dich.«
Mit einem Nicken half Maximilian dem Mädchen beim Aufstehen, führte sie durch den Gang und trat mit ihr hinaus in die Nacht. Die ersten Schritte waren noch schwierig, dann ließ sie sich mühelos führen, als wäre ihr Geist nicht mehr Herr über ihren Körper.
»Fühlst du dich nun besser?«, wollte Maximilian wissen.
Das Mädchen antwortete nicht.
»War es hilfreich, den Worten des Vikars zu lauschen?«, versuchte er es erneut.
Sie schwieg weiterhin.
Mit der Nacht kam die Kühle in die Stadt. Maximilian zog sich den Umhang zurecht und bemerkte, wie sein Atem kleine weiße Wölkchen bildete. Schnell wollte er seinen Auftrag erledigen und unter die wärmende Bettdecke schlüpfen. Er war froh, als sie endlich den Gasthof erreichten. Für die Verhältnisse der Stadt war es ein beinahe prunkvoller Bau. Über zwei Geschosse zog sich das ausladende Gebäude. Neben einem wuchtigen Balkon fiel ihm direkt der kleine Vorhof ins Auge. Maximilian konnte sich gut daran erinnern, wie Vater, Lorenz und er öfter an diesem Gasthof vorbeigekommen waren, als sie ihre Waren auf dem Markt verkauft hatten. Gut situierte Händler aus der Region fanden hier eine Übernachtungsmöglichkeit und das üppige Essen war über die Stadtgrenzen bekannt. Natürlich war er nie in den Genuss gekommen, die Gastfreundschaft des Wirtes oder die weichen Betten des Hauses zu genießen. Nur die reichen Händler hatten ihnen davon vorgeschwärmt. Stattdessen hatten sie früher – auch wenn es bereits tief in der Nacht war – den Rückweg nach Kempen antreten müssen.
»Dort habt ihr Essen und ein Bett und das, ohne zu löhnen«, hatte Vater immer gesagt. Bei dem Gedanken musste Maximilian schmunzeln.
Im Gasthof brannte noch Licht, Stimmgewirr drang ihm deutlich an die Ohren. Hier und da lachte jemand. Ein Refugium des Frohsinns in dieser düsteren Zeit. Bei genauerem Hinsehen bemerkte er, dass sie von zwei Männern beobachtet wurden, die auf dem Balkon Wache hielten.
Kaum zu glauben, dass es in dieser Zeit noch Menschen gab, die sich eine Einquartierung leisten konnten. Doch wo Elend, Hunger, Krieg und Waffen herrschen, gibt es auch jemanden, der davon profitiert, überlegte Maximilian. Gerade als er an der mächtigen Tür klopfen wollte, spürte er einen zaghaften Griff um seinen Arm.
»Glaubst du an Ihn?« Der Blick von Senta war eindringlich, als
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