Die Doppelgängerin
Karl
brachte Gaby und Bärbel nach Hause. Tarzan und Klößchen radelten zur
Internatsschule zurück.
Während Klößchen durchs Tor rollte und
seinen Drahtesel im Fahrradkeller verstaute, blieb Tarzan außerhalb des
Internatsgeländes. Vorsichtig witterte er mit Augen und Ohren nach allen
Seiten. Dann schob er sein Rennrad in ein Gebüsch auf der Außenseite der
umfriedeten Mauer. Mit dem Kabelschloß kettete er es an ein armdickes Bäumchen.
Auf sein Rad war er angewiesen — nachher.
Damit ersparte er sich viel Zeit auf dem Hin- und Rückweg zu und von der
Pension. Das bedingte freilich, daß er es hier ließ. Denn der Fahrradkeller
wurde abends verschlossen.
Klößchen war schon im ADLERNEST. Er
kaute mit vollen Backen, und die Bude roch nach Schokolade.
„Ich seh’ mal auf dem Speicher nach“,
sagte Tarzan.
„Da war ich schon. Ist nichts in der
Falle. Kein Erpresser und kein Schuh. Und die Strickleiter auch nicht. Ob die
unser Geld schon geholt haben?“
„Um das jetzt zu wissen, müßte ich der
Briefkasten an der Mädchenschule sein.“
Träumerisch sagte Klößchen: „Da wäre
ich schon lieber der Briefkasten vor Bärbels Fenster.“
Die Geräusche verstummten. Stille
senkte sich über das große Schulgebäude. Vor den Fenstern stand die Nacht; und
nur drüben im Paukersilo brannte noch Licht.
Klößchen war eingeschlafen. Er hörte
nicht, wie Tarzan leise aus dem Bett stieg und sich anzog.
Aus dem Schrank nahm er das
zusammengerollte Nylonseil und die Tasche mit Werkzeug und Superkleber. Er trat
auf den Flur, wo nur die Nachtbeleuchtung schwaches Licht verbreitete. Er
schlich auf Zehenspitzen.
Hinter der Schwingtür öffnete er das
Flurfenster. Hier begann das Nebengebäude. Die Mauer sprang vor. Der Winkel lag
völlig im Dunkeln, wurde von keinem Laternenlicht erreicht und bot ideale
Voraussetzung für nächtliches Ausbüchsen. Wilder Wein rankte sich an der Mauer
hoch — bis zur Dachrinne. Um die Gewächse zu stützen, hatte Hausmeister Mandl
Haken in die Mauer geschlagen und ein Holzgitter angebracht. Die Haken saßen
fest wie bei einem vielbegangenen Klettersteig in den Alpen. Viele Male schon
hatte Tarzan Strickleiter oder Seil eingehakt. Allein oder mit Klößchen war er
hinuntergeklettert.
Er stieg hinaus, hielt die Tasche mit
den Zähnen fest, zog das Fenster zu und klemmte ein Stück Pappe zwischen den
Rahmen.
„Flink turnte er hinunter. Das Seil
ließ er hängen. Auf dem Weg zum Tor wich er zwei Schülern aus der 13. Klasse
aus, die — weil sie’s durften — um diese Zeit noch im Park spazierten und
wichtige, aufs Abitur gerichtete Gedanken wälzten, meistens Verwünschungen.
Er holte sein Rad. Als er über die
Landstraße sauste, kam ihm ein Wagen entgegen. Weil die Fahrbahn bei der Schule
endete, konnte es nur ein Lehrer sein.
Tarzan verschwand samt Rad im
Chausseegraben, der zum Glück trocken war, und zog den Kopf ein, als
Scheinwerferstrahlen über ihn strichen.
Der kleine Wagen — Studienassessor Uhls
Heckenspringer, wie die Schüler ihn nannten — schnurrte vorbei.
Kurz vor halb elf erreichte Tarzan die
Bleibetreu-Straße. Er hielt vor der Pension und sah zu den Fenstern hinauf.
Hinter einem war Licht. Aber nebenan,
wo kein Licht schimmerte, bewegte sich die Gardine. Inge winkte. Sie öffnete
das Fenster. Tarzan fing den Schlüssel auf.
„Ich habe Frau Waberina gesagt, daß du
kommst. Sie hat nichts dagegen. Kannst dein Rad im Parterreflur lassen.“
„Gut.“
Ist sie so aufgeregt? dachte er, als er
sein Rad durch den Hauseingang schob. Jetzt müßte sie zuversichtlich sein, aber
ihre Stimme klingt völlig verängstigt.
Er stieg in die erste Etage, schloß
leise auf, trat in den muffigen Flur und ging zu Inges Zimmer, wo er klopfte.
„Du mußt dir aufschließen“, rief Inge. „Du
hast den Schlüssel.“
Er tat’s.
Sie saß auf der vorderen Sesselkante.
Die fertig gepackte Reisetasche stand zwischen ihren Füßen.
„Gott sei Dank! daß du kommst!“
flüsterte sie. „Hier bleibe ich keine Minute länger als nötig.“
„Gefällt’s dir nicht?“
Sie deutete zur Wand. „Mein Nachbar war
schon dreimal an der Tür. Er will unbedingt ein Glas Wein mit mir trinken. Ich
soll doch rüberkommen. Beim ersten Mal habe ich die Tür geöffnet, weil ich
dachte, es wäre die Waberina. Aber es war ein alter, schwitzender Kerl mit
gelblichem Gesicht, langen Zähnen und gelblichen Haaren. Er war erst wenig
betrunken, hat mich aber beglotzt, als stünde ich im
Weitere Kostenlose Bücher