Die Dornen der Rose (German Edition)
noch zwei Männer, die die Wärter spielen, und einen Fahrer. Das haben wir schon früher gemacht. Viele Male.«
Ihr Weg wurde von einem Stapel Kisten und einem ausgemusterten Stuhl blockiert, und sie machte erneut kehrt. »Wir haben das vor fünf Jahren in den ersten Wirren der Revolution getan. Überall herrschte Chaos. Wir hätten die Gefängniswärter auch mit einer Kinderschiefertafel und einem mit Kreide darauf gekritzelten Befehl zum Narren halten können. Heutzutage geht das nicht mehr.«
»Das Grundprinzip hat sich nicht geändert. Die Leute sehen etwas Schriftliches und tun, was man ihnen sagt.«
»Als wir das gemacht haben, waren wir die Ersten. Zu viele romantische Dummköpfe sind seitdem in Paris ein- und ausgegangen und haben in halb Europa damit geprahlt, wenn sie es geschafft haben. Die einfachen Tricks sind allseits bekannt.«
»Dann überlegen wir uns eben etwas, auf das nicht jeder kommt.«
»Mir fällt aber auch nichts auf Anhieb ein.« Sie setzte sich wieder in Bewegung und ließ noch einmal alle Ecken und Winkel, die sie im Gefängnis gesehen hatte, Revue passieren. Irgendwo dort war die Antwort.
Ein kleines Kind – nicht älter als vier – saß auf einer Kiste und beobachtete sie. Höchstwahrscheinlich gehörte es einer der Huren aus dem Bordell und durfte den Tag über allein im Hof spielen. Dass die Mutter darauf achtete, dass es in der Nähe blieb, sauber und ordentlich aussah und wohl genährt war, hatte etwas Tröstliches. Man sah die Zuneigung der Mutter in dem sorgfältig gekämmten Haar und auch in der zarten Korallenkette. Trotzdem war die Vorstellung traurig, dass dieses Kind aufwuchs, nur um später den gleichen Beruf wie die Mutter auszuüben.
»Was meinst du?«, fragte sie das kleine Mädchen. Es hieß Séverine. »Sollen wir einfach mit gefälschten Papieren und einem recht offensichtlichen Trick am Tor anklopfen?«
Das blonde Mädchen schüttelte ernst den Kopf. »Nein.«
»Du hast recht. Wir haben nicht überlebt, weil wir verwegene Helden mit farbenprächtigen Verkleidungen sind. Wir sind wie Mäuse. Es gibt nichts Unauffälligeres als eine Maus.« Sie begann wieder, auf und ab zu gehen. »Ich muss ein Mauseloch in dieses Gefängnis finden. Es muss doch eines geben.«
Jean-Paul stand auf, um wieder einen Blick auf die Skizzen, Pläne und Karten zu werfen, die auf ihrem Bett ausgebreitet waren. Er hieß ihr Vorhaben zwar nicht gut, doch er würde sein Leben aufs Spiel setzen, um ihr zu helfen. Machte das nicht einen echten Freund aus? Auch ihre Heirat missbilligte er. Er nannte Guillaume nur den »wandelnden Muskelprotz«, was ihre Laune entschieden hob. Denn wer wollte schon, dass ein früherer Liebhaber die Heirat der ehemaligen Geliebten befürwortete?
Er brachte die Skizzen in eine neue Reihenfolge. Als sie zu ihm trat, nahm er die auf, die ganz links lag. »Der Bäcker.«
»Der Bäcker.«
»Die Wand, die an das Kloster grenzt, wird von seinen Öfen eingenommen. Wir müssten sie auseinandernehmen, um durch die Wand zu kommen. Er hat drei Lehrjungen, die im Laden schlafen.«
»Das klingt nicht vielversprechend.«
»Hier«, sagte er und hielt den nächsten Zettel hoch, »haben wir Bürger Vilmorin, der mit seiner werten Gattin und zwei Kindern zusammenlebt. Sein Garten grenzt hinten an die Kirche. Eine freie Fläche, auf die man von drei Häusern blicken kann. Er hat einen lehmverputzten Keller. Sollte es unter der Kirche eine Krypta geben – und das wissen wir nicht –, befände diese sich zehn Meter entfernt von seiner Kellerwand.«
»Wir haben schon Tunnel gegraben … und auch Löcher in Wände geschlagen. Es ist nicht unmöglich.«
Aber wir haben keine Zeit, Tunnel zu graben. Das wissen wir beide.
Mir fällt nichts ein. Dieses eine Mal, wo es so wichtig ist, herrscht völlige Leere in meinem Kopf.
Jean-Paul griff nach der nächsten Skizze. »Die Witwe Desault. Sie lebt allein mit einem ziemlich stattlich wirkenden Hund. Sie wohnt ebenfalls Wand an Wand mit dem Kloster, allerdings auf der Kirchenseite, und offensichtlich schlafen dort einige der Wärter. Das hier wiederum …«
Er ging die Skizzen eine nach der anderen durch. Er und die anderen hatten hervorragende Arbeit geleistet. Ein Dutzend Mitarbeiter von La Flèche hatte die ganze Nacht und den Vormittag damit verbracht, alles auszukundschaften. Ihr eigener Plan vom Gefängnis lag auf dem provisorischen Tisch. Darauf waren die Flure, der Kreuzgang und die Zellen eingezeichnet und mit den
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