Die Dornen der Rose (German Edition)
ihn wartete. Die Tür zur Straße stand offen. »Bringen Sie meine Ratte nicht um, wenn er von allein zurückkommt.«
»Wenn er zurückkommt.«
»Es besteht immer die Möglichkeit.«
»Glauben Sie wirklich, dass Sie etwas aus diesem bösartigen kleinen Scheusal machen können? Es ist unklug, Baby-Skorpione aufzunehmen. Sie werden irgendwann giftig.«
»Er wird einer von den ganz Großen werden, Helen. Einer von uns. Entweder das, oder ich bringe ihn höchstpersönlich um.«
20
»Der Agent William Doyle ist mir auf dem Markt von Les Halles entwischt. Mit den Eseln. Er ist durch den Stallhof einer Wirtschaft gegangen, und dabei habe ich die beiden Esel zwischen all den anderen Packtieren aus den Augen verloren. Ich bin selber ein Esel, Madame, und ich schäme mich.« Justine ließ den Kopf hängen.
Madame lachte sie aus. Oh nein, nicht mit dem Mund. Dafür war sie viel zu nett. Sie lachte mit den Augen. »Er ist sehr gut.«
»Ich bin auch sehr gut. Mein Herz ist gebrochen. Ich hätte schwören können, dass es keinen Menschen gibt, dem ich nicht durch mein Paris folgen könnte. Und jetzt bin ich von einem Engländer geschlagen worden.« Das machte das Ganze noch schlimmer. »Der Junge ist auch irgendwann, nachdem sie vom Hôtel de Fleurignac weggingen, verschwunden. Ich bin ihm zwar nicht richtig gefolgt, aber es ist eine weitere Demütigung, dass ich mir nicht sicher bin, wann oder wohin er gegangen ist. Ich bin dumm wie Bohnenstroh.«
Sie befand sich im Salon, der der schönste von mehreren geschmackvoll eingerichteten Räumen im Bordell war. Alles besaß eine leichte Eleganz – die hellcremefarbenen Wände, die blauen Vorhänge mit goldfarbenen Girlanden, die zierlichen Möbelstücke aus Mahagoni. Nichts war einfach nur zufällig da oder harmonierte nicht mit dem Ganzen. Eines Tages würde sie selber solche Räume erschaffen.
Madame bereitete ihr einen Becher mit Schokolade zu, eigenhändig, aus heißer Milch, die Babette aus der Küche hochgebracht hatte. Madame hatte ihren seidenen Schal genommen, der auf der Sofalehne lag, und ihn über den Staub und Dreck der Dienstbotenkleidung gezogen, damit Justine sich in diesem wunderschönen Raum nicht schäbig vorkam.
»Als ich mir eingestehen musste, dass ich diesen schrecklichen Monsieur Doyle aus England verloren hatte – und das passierte nicht schnell, denn ich bin sehr eigensinnig – und dazu noch zwei ausgewachsene Esel, bin ich nach Hause gekommen, um zu gestehen.«
Madame unterbrach sie nicht und wartete geduldig.
Sie trank ihre Schokolade und zog das Geständnis eine weitere Minute in die Länge. Sie musste geradeheraus gestehen, was sie getan hatte. »Ich habe meinen Posten verlassen. Sie haben mir die Aufgabe gegeben, das Hôtel zu beobachten und über jeden Bericht zu erstatten, der Victor de Fleurignac aufsuchte. Stattdessen heftete ich mich an die Fersen des Engländers. Ich nahm an, dass das in Ihrem Sinne sein würde.«
»Genau richtig. Du hast genau das Richtige getan. Ich kann jedes der Mädchen dazu abstellen, Haustüren im Auge zu behalten und Bericht zu erstatten. Du aber bist jemand, der weiß, wann man seinen Posten verlassen muss, um einen Befehl zu befolgen, der nicht gegeben worden ist.«
»Ich schäme mich, dass ich ihn im Gewirr des Marktes verloren habe. Ich werde es das nächste Mal besser machen.«
Madame hatte einen weißen Teller mit Rosinen auf den Tisch gestellt. Jetzt schob sie ihn ein Stück in ihre Richtung. Sie waren nicht sehr süß, diese Rosinen, aber ihnen haftete ein Duft an, der sie zum Träumen brachte. Sie waren aus Trauben aus Burgund hergestellt worden. Burgund war einst ihr Zuhause gewesen.
Sie hat mich aus der Hölle geholt und gerettet. Nachdem ich ihr meinen Fehler gestanden habe, tröstet sie mich mit diesem kleinen Geschenk aus meiner alten Heimat . Madame warf ihr ihre Dummheit nicht vor, sondern lächelte nur und goss noch mehr Schokolade aus der Kanne in den Becher.
»Du kannst die Rosinen mitnehmen und mit deiner Schwester teilen. Sie wird sich darüber freuen. Und jetzt überleg mal mit mir zusammen. Wir haben also herausgefunden, dass der bewundernswerte William Doyle in Gesellschaft der Tochter von Bürger de Fleurignac reist.«
»Sie reisen nicht nur miteinander. Ich habe ihr Gesicht gesehen, als sie zu ihm aufsah. Sie sind ein Liebespaar.«
»Das ist raffiniert von ihm, was? Er verführt die Tochter, damit sie ihn zu ihrem Vater führt.«
»Das wäre sehr dumm von ihr.«
»Ja,
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