Die Dornen der Rose (German Edition)
habe. Ich war über die Maßen kühn und unerschrocken.«
Er lachte. Er klang plötzlich wie ein Junge und wirkte sehr erleichtert. »Daran zweifle ich nicht. Wo ist der Zaunkönig jetzt?«
»Ich habe sie nach England geschickt. Nein, murr nicht. Sie ist zu bekannt geworden. Es ist an der Zeit, dass sie sich zurückzieht.«
»Du nimmst mir meine rechte Hand.« Er setzte sich hin, um die Stiefel auszuziehen. Ein Rendezvous in Stiefeln wirkt wenig überzeugend. »Aber du wusstest doch, dass irgendwann die Zeit kommen würde, sie wegzuschicken.«
»Wir sind nicht gierig. Das ist der Grund, warum wir auch nach vier Jahren, in denen wir uns so großer Gefahr ausgesetzt haben, immer noch am Leben sind.«
»Fünf Jahre. Es sind bereits fünf Jahre.« Er ächzte und kämpfte mit seinen Stiefeln. »Lieber Himmel. Erinnerst du dich noch, dass wir dachten, innerhalb eines Monats würde alles vorbei sein? Dass alle wieder zu Verstand kommen und die Hinrichtungen aufhören würden?«
»Bis Oktober. Ich erinnere mich, dass du sagtest, bis Oktober sei alles vorbei. Wir trafen uns damals mit den anderen in diesem Café. Wir waren sieben, tuschelten wie Schulmädchen und errichteten die ersten Zwischenstationen, über die wir sie von Paris aus zur Küste brachten. Wir schleusten fünfzig oder sechzig Spatzen raus und lösten dann die Gruppe auf. Mehr brauchten wir nie zu tun. Komm. Lass mich das machen.« Wie schon wohl hundert Mal zuvor kniete sie sich vor ihm hin, packte seinen Stiefel und zog. Mit einem Ruck landete sie auf den Hacken, weil er sich so plötzlich löste. Wohl hundert Mal war sie schon so zurückgetaumelt.
»Ich wünschte, du würdest das nicht tun.« Er klang gereizt, setzte sich aber anders hin, um auch den anderen Stiefel in ihren Schoß zu legen.
»Zieht Gabrielle dir denn nicht abends die Stiefel aus?«
»Gabrielle ist im siebten Monat, woran du wohl auch gedacht hättest, würdest du uns häufiger besuchen. Ich habe einen kräftigen Diener für Arbeiten, die schnell erledigt werden müssen – Kohlen und Wasser schleppen und mir abends die Stiefel ausziehen. Würdest du jetzt bitte aufstehen?«
»Natürlich.« Es machte Spaß, ihn zu ärgern. Er war so seriös geworden. Betont sittsam zog sie ihren Hausmantel zusammen und knotete ihn neu, damit er es auch wirklich bemerkte und sich über sie ärgerte. »Was du aber vielleicht noch nicht gehört hast, ist, dass Jakobiner aus Paris die Männer zum Château geführt haben, die mit viel Brandy und Hasstiraden in wütenden Pöbel verwandelt worden sind. Es heißt, sie hätten offizielle Dokumente bei sich gehabt. Leider war unser Verhältnis nicht so, dass ich danach hätte fragen können.«
»Es gibt keinen Haftbefehl. Das ist dir klar, oder? Trotz all des Durcheinanders, das in den Komitees herrscht, hätte man deinen auf keinen Fall verloren. Ich habe unseren Mann darauf angesetzt, überall nachzuschauen. Es gibt nichts.« Er war aufgestanden und lief jetzt im Badezimmer auf und ab. Sie hatte die Baumwollvorhänge um die Wanne zugezogen. Er berührte sie jedes Mal mit dem Arm, wenn er daran vorbeiging, sodass sie sich leicht blähten. »Es gibt keine offiziellen Dokumente, die dich oder einen von uns betreffen. Niemand ist beim Komitee für Öffentliche Sicherheit angezeigt worden.«
»Victor sagt das Gleiche. Ich höre normalerweise nicht auf das, was er sagt. Aber in diesem Fall …«
»Er würde es wissen.« Jean-Paul krempelte sich im Gehen die Ärmel bis über den Ellbogen hoch. Man konnte die schmalen Narben auf seinen Oberarmen erkennen. »Ich habe gehört, dass er mit seiner Mutter aus seinen bisherigen Räumlichkeiten ausgezogen ist und sich in eurem Haus eingenistet hat.«
»Das entzückt mich über die Maßen. Und mein Vater ist verschwunden. Es sagt viel über mein Leben aus, dass dies die geringste meiner Sorgen ist.«
Jean-Paul zog das Hemd aus der Hose. »Ich dachte, er sei nach Voisemont gegangen, und nahm an, dass du ihn endlich dazu gebracht hättest, sich irgendwo zu verstecken.«
»Wieder so ein Irrglaube. Ich habe keine Ahnung, wo er ist. Eine der wenigen Gnaden, die mir in dieser letzten Woche zuteilwurde, ist, dass ich Vater nicht am Hals hatte. Aber jetzt wird er vermisst, und das wird langsam beunruhigend. Und lästig.«
»Ich werde unsere Leute informieren. Wir werden versuchen, ihn für dich zu finden.«
»Das müssen wir wohl.« Sie begann ihr Haar mit dem Holzkamm zu entwirren, den ihr Vater ihr aus England
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