Die Dornen der Rose (German Edition)
London gereist, um neue Stiefel zu kaufen oder um die Mondphasen vom Dach der St.-Paul’s-Kathedrale aus zu beobachten. Als Nächstes wird er dann nach Mailand wollen, weil man dort einen neuen Mechanismus für die Turmuhr entwickelt hat. Es ist immer dasselbe.«
»Das ist der Grund, weshalb du mir helfen musst, ihn zu finden. Du kennst ihn besser als jeder andere.« Victor hatte die Arme hinter dem Rücken verschränkt, sein Blick war umwölkt. »Es ist zu seinem eigenen Besten. Robespierre ist dieser Tage jedem gegenüber misstrauisch. Überall sieht er Umsturzpläne … sogar in den ziellosen Reisen eines verrückten alten Mannes. Sogar ich habe in der Hinsicht keinen Einfluss auf ihn. Wenn man deinen Vater bei dem Versuch aufgreift, Frankreich zu verlassen, wird man ihn nach Paris bringen und verurteilen. Dich könnte man dann festnehmen, weil du die Tochter eines Emigranten bist. Die Besitztümer werden konfisziert, und …« Er sah sie mit finsterer Miene an. »Dein Vater muss aufgehalten werden.«
Sie brauchte Victor nicht, um sich an die unerfreulichen Möglichkeiten zu erinnern. »Wenn mein Vater zurückkommt …«
»Darauf können wir nicht warten. Die Polizeispitzel sind überall. Dein Vater ist keine unauffällige Person. Denk nach, Marguerite. Wo ist er? Wo könnte er sein? Wo würde er hingehen?«
»Überallhin. Er war einmal zehn Wochen lang in Strasbourg, um die Strömung des Flusses zu messen. Er kommt immer zurück.«
»Er hat nie an den Rest der Familie gedacht. Nie.« Ihr Cousin ging jetzt auf und ab. Ärger und Verzweiflung wallten hinter ihm auf wie das Kielwasser eines schwarzen Fisches in einem dunklen Teich. »Dieses Mal wird er uns alle mit ins Verderben ziehen. Du bist diese letzten paar Wochen nicht in Paris gewesen. Du weißt nicht, was sich hier mittlerweile alles abspielt.«
Doch, sie wusste es. Die Spatzen wurden immer mehr, immer verzweifelter, immer fassungsloser, weil sie merkten, dass sie bald zwischen die Räder der Revolution geraten und in Stücke gerissen werden würden.
Sie war bald am Ende ihres Lateins, was sie mit ihnen machen sollte. Jeder sichere Unterschlupf in Paris war mittlerweile besetzt. Das Netzwerk zur Rettung der Aristokraten in der Normandie war zerstört. Prüfend strich sie über die Briefe, die sie geschrieben hatte. Sie waren noch nicht trocken genug, um sie zusammenzufalten. Irgendwann würde Victor zur Sache kommen oder gehen. Man musste geduldig sein.
Schließlich stieß Victor einen lauten Seufzer aus und blieb stehen. »Du kannst mir nicht helfen.«
»Ich werde seine Freunde fragen. Manchmal erzählt er ihnen …«
»Lass es. Ich möchte nicht, dass sich irgendwelche Gerüchte verbreiten.« Er zupfte an seiner Manschette und rückte sie um einen Zentimeter zurecht. Dann fing er an, nervös mit einem Knopf an seiner gestreiften Weste zu spielen. »Ich werde ihn selber ausfindig machen.« Abrupt setzte er sich Richtung Tür in Bewegung, so bestrebt, den Raum zu verlassen, wie er ihn zuvor betreten hatte.
»Trink den Tee, solange er noch heiß ist.« Er ging, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Nachdem Victor gegangen war, nahm sie einen Schluck Tee, doch er war bitter und lauwarm, und es hatte sich ein Film darauf gebildet, sodass sie nur noch einmal kurz daran nippte und ihn dann stehen ließ. Die Meissner Uhr auf der Kaminumrandung schlug zehn Uhr.
Ihre Fenster gingen zum kleinen Garten hinter dem Haus hinaus. In der Luft hing das Dröhnen der Stadt. Nach Wochen der Stille auf dem Lande musste sie sich erst wieder daran gewöhnen. Der Verkehr auf den Straßen hörte nicht auf, nur weil die braven Bürger zu Bett gegangen waren, eher im Gegenteil. Weil die Straßen jetzt leer waren, lieferten Händler Holz, Fisch und Mehl in Paris aus.
Das helle Viertel des Mondes hielt sein Dunkel in den Armen. Nur die hellsten Sterne waren zu sehen. Der Rauch der Kohlefeuer und die diesige Feuchtigkeit, die vom Fluss aufstiegen, verhinderten einen klaren Blick in den Himmel.
Sie sollte nach Agnès klingeln, in ihr Nachtgewand schlüpfen und schlafen gehen. Sie war müde, wie sie es ja auch zu Cousin Victor gesagt hatte. Sie hatte morgen viel zu erledigen, und am darauffolgenden Tag und die vielen kommenden Tage ebenfalls.
Die fünf Spatzen von Jean-Paul würden bei Tagesanbruch Paris im Karren mit der Schmutzwäsche verlassen. Heute Nacht würden andere Spatzen von La Flèche auf einen Kohlekahn gebracht werden. Man hatte sie wahrscheinlich bereits an
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