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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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sein.«
    Meggie zitterte, nahm jedoch ihren ganzen Mut zusammen.
    »Oh, bitte, Schwester, es war meine Schuld!« piepste sie. Die fahlblauen Augen schwenkten von Bob zu Meggie und schienen in sie einzudringen: buchstäblich in ihre Seele. Unschuldig und arglos stand sie da und wußte nicht, daß sie gegen das oberste Gebot verstieß im ewigwährenden, tödlichen Kampf zwischen Lehrern und Schülern: Nie freiwillig über etwas Auskunft geben! Rasch gab Bob ihr einen Tritt gegen das Bein, und sie musterte ihn verwirrt von der Seite.
    »Warum war es deine Schuld?« fragte die Nonne in einem so kalten Ton, wie Meggie ihn noch nie gehört hatte.
    »Ich mußte brechen, und das ging auf den Tisch und auf mein Kleid, bis durch auf die Unterhose, und Mum mußte mich waschen und mir etwas anderes zum Anziehen geben, und darum sind wir alle zu spät gekommen«, erklärte Meggie.
    Das Gesicht der Nonne blieb ausdruckslos. Nur ihr Mund schien plötzlich einer zum Zerspringen gespannten Stahlfeder zu gleichen. Die Spitze ihres Stocks senkte sich um zwei oder drei Zentimeter. »Wer ist dies!« fauchte sie Bob an, und ihre Frage schien sich auf ein neues und ganz besonders widerliches Insekt zu beziehen. »Bitte, Schwester, sie ist meine Schwester Meghann.« »Dann wirst du ihr in Zukunft klarmachen, Robert, daß es gewisse Dinge gibt, die wir niemals erwähnen, wenn wir wirkliche Ladies und Gentlemen sind. Unter gar keinen Umständen gebrauchen wir je den Namen irgendeines Teils unserer Unterbekleidung, wie Kinder aus einem anständigen Elternhaus automatisch wissen würden. Streckt eure Hände vor, ihr alle.«
    »Aber, Schwester, es war meine Schuld!« rief Meggie, während sie ihre Hände vorstreckte, die Innenflächen nach oben gekehrt. Sie kannte das Ritual. Tausendmal und mehr hatten ihre Brüder es zu Hause als Pantomime vorgeführt.
    »Still!« zischte Schwester Agatha sie an. »Es ist mir völlig gleichgültig, wer von euch die Schuld hat. Ihr seid alle zu spät gekommen, also müßt ihr auch alle bestraft werden. Sechs Hiebe!« Sie sprach das Urteil mit monotoner Stimme.
    Voll Schrecken beobachtete Meggie, wie der lange Stock blitzschnell auf Bobs Handfläche herabsauste, und zwar genau in die Mitte. Sofort erschien eine rote Strieme. Der nächste Schlag saß präzise an der untersten Furche der Finger und der dritte auf den Fingerkuppen, einem besonders schmerzempfindlichen Teil. Schwester Agatha war eine zielsichere Expertin. Drei Schläge trafen Bobs andere Hand. Dann wandte die Nonne ihre Aufmerksamkeit Jack zu. Bobs Gesicht war blutleer, aber er hatte nicht gezuckt und auch keinen Laut von sich gegeben. Genauso verhielten sich jetzt seine Brüder, selbst der zarte Stu.
    Als die Reihe an Meggie war, schloß sie unwillkürlich die Augen, und so sah sie nicht, wie der Stock auf ihre Hand herabsauste. Doch plötzlich gab es eine ungeheure Explosion von Schmerz. Siedeglut schien sich durch das Fleisch hindurch zum Knochen zu fressen, und während sie weiter vordrang, die Unterarme herauf, peitschte der nächste Hieb auf die Handfläche, und als sie die Schultern erreichte, landete auf den Fingerkuppen der dritte Schlag. Mit der Schärfe einer Klinge schien der Schmerz jetzt mitten durch Meggie hindurchzugehen. Tief gruben sich ihre Zähne in die Unterlippe. Sie schrie nicht. Genau wie ihre Brüder blieb sie stumm. Sie hätte sich geschämt, es ihnen nicht nachzutun. Auch sie hatte ihren Stolz. Was sie empfand, waren Zorn und Empörung über die Ungerechtigkeit. Noch immer hielt sie die Augen geschlossen. Sie zog es vor, Schwester Agatha jetzt nicht anzusehen. Die Lektion, welche die Nonne ihr erteilte, haftete fest - allerdings kaum in dem von Schwester Agatha beabsichtigten Sinn.
    Erst in der Mittagspause spürte Meggie in den Händen keine Schmerzen mehr. Den Vormittag hatte sie in einem Zustand von Furcht und Verwirrung hinter sich gebracht. Im
    Klassenraum für die Jüngsten mußte sie sich mit einem anderen Kind Pult und Bank teilen, doch wer da neben ihr saß, nahm sie überhaupt nicht wahr. Und von dem, was gesagt und getan wurde, begriff sie nichts. Die Pause verbrachte sie dann mit Bob und Jack an einer abseits gelegenen Stelle des Spielplatzes. Sie glich einem Häufchen Elend. Erst auf Bobs strengen Befehl aß sie die Brote mit der Stachelbeermarmelade, die Fee ihr mitgegeben hatte.
    Während des Nachmittagsunterrichts ging es dann besser. Meggie begann wahrzunehmen, was um sie herum geschah. Noch immer brannten

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