Die Dornenvögel
für irgendein stilles Plätzchen draußen, weit abseits von Lärm und Gedränge. Das
Tanzen war dazu da, sich auszutoben, aufgestaute Emotionen loszuwerden.
Schon bald entdeckte Meggie, wie sehr sie um ihren großen, gutaussehenden Begleiter beneidet wurde. Viele schmachtende und verführerische Blicke trafen ihn, fast genauso viele wie seinerzeit Pater Ralph. Seinerzeit. Seinerzeit. O Gott, wie furchtbar klang das doch. Wie entsetzlich schmeckte das nach ferner, nach fernster Vergangenheit.
Luke hielt Wort. Er ließ irgendwelchen Konkurrenten nicht die leiseste Chance. Mußte er mal »für kleine Jungs«, so paßte er dafür einen günstigen Zeitpunkt ab. Enoch Davies war da, auch Liam O’Rourke, und beide zeigten sich durchaus darauf erpicht, bei Meggie endlich einmal einen Tanz zu ergattern. Doch Luke legte gleichsam einen Sperrgürtel um sie, und Meggie schien zu verwirrt zu sein, um zu begreifen, daß sie sich auch mal von einem anderen auffordern lassen konnte und nicht nur mit ihrem Begleiter tanzen mußte.
Sie waren wütend, die anderen. Sie fanden es unglaublich, daß ein einfacher Viehtreiber die Frechheit besaß, ihnen Meggie unter der Nase wegzuschnappen. Ihm war ihr Zorn gleichgültig. Sie hatten ihre Chance gehabt, sie jedoch nicht wahrzunehmen verstanden. Ihr Pech, bestimmt nicht seins.
Der letzte Tanz war ein Walzer. Luke nahm Meggies Hand, schlang seinen Arm um ihre Taille, zog sie an sich. Er war ein ausgezeichneter Tänzer. Zu ihrer Überraschung entdeckte Meggie, daß sie nichts weiter zu tun brauchte, als sich von ihm führen zu lassen, gleichsam der Sprache seines Körpers zu folgen.
Ein eigentümliches Gefühl, so dicht an einen Mann geschmiegt, so eng von ihm herangezogen. Seine Brustmuskeln konnte sie spüren und die Muskeln seiner Schenkel. Seine Wärme schien buchstäblich auf sie überzuströmen. Ihre Kontakte mit Pater Ralph waren so voller
Anspannung gewesen, daß sie etwas Genaueres, gar Intimeres überhaupt nicht hatte wahrnehmen können. Wie fest war sie doch davon überzeugt gewesen, in den Armen eines anderen nie etwas von dem fühlen zu können, was sie bei ihm empfunden hatte. Nun, das hier war auch anders, doch es war erregend. Ihr Pulsschlag hatte sich beschleunigt, und Luke spürte das offenbar. Er zog sie noch enger an sich, wirbelte sie noch schneller herum, und dann lehnte er eine Wange gegen ihr Haar.
Als sie später nach Hause fuhren, sprachen sie nur wenig miteinander. Es war ein weiter Weg von Braich y Pwll nach Drogheda, rund hundertzwanzig Kilometer, und die ganze Zeit über ging es von einer Koppel zur anderen, oft kaum eine richtige Fahrstrecke, sondern unwegsames Gelände mit vielen Löchern und Hulpern, nur gut, daß der Rolls eine so ausgezeichnete Federung besaß. Nirgends gab es ein Haus oder ein Licht oder irgend etwas, das von der Anwesenheit von Menschen zeugte. Nur Stille, Leere, nichts sonst. Sie kamen zu jener Bodenwelle, die sich quer durch das Gebiet von Drogheda zog. Ihr höchster Punkt mochte sich vielleicht zwanzig oder dreißig Meter oberhalb des übrigen Geländes befinden. Von einer Anhöhe im eigentlichen Sinn konnte man da kaum sprechen, doch hier auf den Schwarzerdebenen kam eine solche Bodenerhebung fast den Schweizer Alpen gleich.
Luke hielt mit dem Rolls mitten im Irgendwo. Er stieg aus, ging um das Auto herum, öffnete für Meggie die Tür. Wenige Sekunden später stand sie neben ihm, kaum merklich zitternd. Würde er den Abend verderben, indem er versuchte, sie zu küssen? Er griff nach ihrem Ellbogen, doch nur um sie zu stützen, wie es schien. In ihren hochhackigen Tanzschuhen konnte sie hier tatsächlich sehr leicht fallen. Luke führte sie vorsichtig über den unebenen Boden hinweg, paßte sehr sorgsam auf, daß sie nicht in Kaninchenlöcher trat. Auf der rechten Seite stand ein alter, halbverfallener Holzzaun. An dem hielt sie sich mit ihrer freien Hand fest. Und während ihre Angst wich, Luke werde die Gelegenheit nutzen, sich ihr zu »nähern« - es hatte nicht den Anschein: Gott sei Dank! - , stieg etwas anderes in ihr auf, ein Gefühl der Verzückung. Ganz oben auf der Bodenwelle standen sie jetzt, und das stille, fahle Licht des Mondes ließ alles fast genauso deutlich vor das Auge treten wie heller Sonnenschein. Endlos weit dehnte sich das Land, silbrig und weiß und grau schimmerte das Gras, sacht wogend unter leisem Windhauch, wie ein ruheloser Seufzer. Hier und da und dort funkelten an den Blättern der Bäume
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