Die Dornenvögel
Jahre alt war. Sobald er nur konnte, schloß sich der Junge einer jener »wandernden« Schurkolonnen an, die von Station zu Station zogen. Er begann als Tar-Boy. Rutschte einer der Scherer mit seinem Schurgerät ab und riß einem Schaf eine häßliche Wunde, so klatschte der Junge flüssigen Teer darauf. Vor harter Arbeit fürchtete Luke sich nicht, und sie bekam ihm augenscheinlich genausogut wie so manchem anderen Menschen ihr präzises Gegenteil, die absolute Faulenzerei. Ob dies seine Ursache darin hatte, daß sein Vater ein berüchtigter Kneipenhocker gewesen war, oder ob es sich um ein Erbteil seiner Mutter handelte, die ihrem Sohn gleichsam ihren deutschen Fleiß auf den Weg mitgab - wer hätte es sagen können?
Er avancierte vom Tar-Boy zum Shed-Hand, zum Schurhüttenhelfer. Als solcher mußte er die frisch abgeschorenen Schaffelle, die sogenannten Vliese, bei den Schurständen einsammeln und zum Wollrolltisch zum Skirten bringen. Dieses Skirten war ein Teil des Arbeitsprozesses, den er dann alsbald selbst verrichtete. Es kam darauf an, die schmutzverkrusteten Ränder von den Vliesen zu entfernen, bevor diese in Behälter kamen, wo sie für den Classer, den Klassifizierer, bereitlagen. Dieser war sozusagen der Schurhütten-Aristokrat, ein Mann, der gleich einem Wein- oder einem Parfümprüfer die für seinen Beruf unerläßliche Begabung mitbringen muß. Ohne den schier untrüglichen Instinkt wäre er für seine Arbeit ungeeignet gewesen.
Luke besaß diesen besonderen Instinkt nicht, und wenn er mehr verdienen wollte - und das wollte er ganz unbedingt -, dann blieben für ihn noch zwei Jobs: Scheren oder Pressen. Nun besaß er zwar die Kraft, um eine Presse zu bedienen - die klassifizierten Vliese wurden zu mächtigen Ballen zusammengedrückt -, doch der Job eines Gun-Scherers erschien ihm verlockender, denn er brachte mehr Geld.
Da er inzwischen in Western Queensland als guter Arbeiter bekannt war, gab man ihm bereitwillig die Chance, mit dem Prozeß der eigentlichen Schur vertraut zu werden. Ein GunScherer mußte schon einiges an Voraussetzungen mitbringen, Kraft, Ausdauer, manuelle Geschicklichkeit, Bewegungskoordination. Über all dies verfügte Luke zum Glück. Bald schor er pro Tag seine rund zweihundert Schafe, und das an jeweils sechs Tagen in der Woche. Sein Lohn betrug pro Hundert ein Pfund Sterling. Daß sich solche Stückzahlen überhaupt erreichen ließen, war schon erstaunlich, denn Luke wie auch die anderen arbeitete mit einem ziemlich kleinen Handgerät. Die großen Handgeräte, wie man sie auf Neuseeland kannte, mit ihren breiten und groben Zähnen und Schneiden, waren hier in Australien verboten, obschon ein Scherer seine Leistung mit ihrer Hilfe verdoppeln konnte.
Es war harte Arbeit, echte Schwerstarbeit. Ein Schaf zwischen die Knie geklemmt, mußte Luke seinen langen Körper vorbeugen, um sodann sein Schurgerät - Boggie genannt, weil es irgendwie dem Boggi-Lizard ähnlich sah - in möglichst geraden und langen »Strichen« über den Körper des Tieres hinwegzuführen, so daß das sich ablösende Vlies, dicht über der Haut geschoren, ein zusammenhängendes Ganzes blieb, denn wenn man keine hochwertige Arbeit leistete, hatte man im Nu den Shed-Boß, den Schurhüttenchef, auf dem Hals.
Die Hitze war schlimm, sehr schlimm sogar. Man schwitzte fürchterlich und wurde so sehr von Durst gequält, daß man Wasser in wahren Unmengen in sich hineinschüttete; bei Luke wurden es pro Tag meist so um die fünfzehn Liter. Doch das machte ihm wenig aus, und ebensowenig verdrossen ihn die Fliegen. Mit ihnen war er sozusagen groß geworden. Nicht einmal die Schafe, für viele Scherer ein wahrer Alptraum, waren ihm ein Greuel. Erstens handelte es sich ausnahmslos um Merinos, bei denen die Wolle bis zu den Hufen und bis zur Nase wuchs, was die Schur besonders schwierig machte. Zweitens bewegte sich ihre knubblige Haut wie schlüpfriges Papier, was das Scheren zusätzlich erschwerte. Und drittens, viertens, fünftens und sechstens, ja fast ad infinitum gab es weitere Komplikationen durch die gefürchteten Klunkern, durch Verfitzungen und Verfilzungen, durch feuchte oder nasse Stellen, durch Geschwüre, die von Fliegenstichen stammten, und so weiter und so fort. Nein, die Arbeit als solche machte
Luke nichts aus, denn je härter er arbeitete, desto besser fühlte er sich. Was ihn störte, waren der Lärm, der Gestank, das Eingepferchtsein. Nichts sonst auf Erden kam wohl so sehr der Hölle gleich wie
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