Die Dornenvögel
lag das einzig an der gleichbleibenden Freundlichkeit der Müllers. Hätte Meggie ihren Bruder Bob in einem Brief um das Fahrgeld nach Drogheda gebeten, so wäre die Summe zweifellos postwendend zu ihrer Verfügung gewesen, telegrafisch überwiesen. Doch Meggie konnte ihrer Familie unmöglich mitteilen, daß ihr Mann sie ohne einen einzigen Penny ließ. An dem Tag, an dem sie das tat, würde sie sich auch unwiderruflich von Luke trennen, und alles in ihrer Erziehung war gleichsam darauf angelegt, sie von einem solchen Schritt zurückzuhalten. Da war die Heiligkeit ihres Trauungsgelöbnisses, da war ihre Hoffnung auf ein Baby - nicht so bald, gewiß nicht, aber eines Tages eben doch -, da war die anerzogene Achtung vor dem Ehemann als dem, wenn man so wollte, Herrn ihres Schicksals. Anderes kam hinzu, und dieses andere entsprang ihrem Charakter. Zum einen ein unbeugbarer, geradezu starrköpfiger Stolz, zum anderen ein bohrender Zweifel, eine Art Schuldgefühl. War sie für die ganze Situation nicht genauso verantwortlich wie Luke? Hätte er sich nicht vielleicht anders verhalten, wenn sie sich richtig verhalten hätte?
In anderthalb Jahren hatte sie ihn ganze sechs Mal zu Gesicht bekommen. Und manchmal, ohne auch nur zu ahnen, daß es so etwas wie Homosexualität gab, dachte sie, daß Luke von Rechts wegen eigentlich hätte Arne heiraten sollen, denn er lebte ja mit Arne zusammen und zog seine Gesellschaft der ihren ganz entschieden vor.
Inzwischen bestand zwischen den beiden Männern eine volle geschäftliche Partnerschaft. Unablässig zogen sie die rund anderthalb-tausend Kilometer Küste herauf und hinunter, wobei sie den jeweiligen Zuckerernten folgten, und sie schienen nichts zu kennen als Arbeit, Arbeit, Arbeit. Wenn Luke zu Meggie zu Besuch kam, so blieb er ihr eigentümlich fremd. Irgendwelche Intimitäten versuchte er erst gar nicht. Ein oder zwei Stunden saß man mit Luddie und Anne zusammen, dann machte Luke mit seiner Frau einen Spaziergang, gab ihr einen freundlichen Kuß - und war schon wieder davon. Die beiden Müllers und Meggie frönten auf »Himmelhoch« ihrer Lieblingsbeschäftigung, dem Lesen. Die Bibliothek hier erwies sich als wesentlich reichhaltiger als die auf Drogheda. Auch gab es viele Bücher, die ein umfangreiches und gutfundiertes Wissen vermittelten. Meggie lernte beim Lesen ganz automatisch, und es war durchaus nicht wenig, was sie lernte.
An einem Sonntag im Juni 1936 erschienen Luke und Arne gemeinsam und wirkten recht selbstzufrieden. Sie seien gekommen, so sagten sie, um Meggie abzuholen. Sie solle mal etwas wirklich Interessantes erleben, und deshalb wollten sie sie zu einem Ceilidh mitnehmen.
Im allgemeinen zeigten die verschiedenen ethnischen Gruppen auf dem Kontinent eine starke Tendenz, sich rasch zu assimilieren, also durch und durch Australier zu werden. Hier oben auf der Halbinsel, die North Queensland bildete, war das allerdings anders. Die einzelnen Volksgruppen hielten zäh an ihren Traditionen fest: die Chinesen, die Italiener, die Deutschen, die Iroschotten. Um diese vier Gruppen handelte es sich in der Hauptsache. Und wenn die Schotten einen Ceilidh hielten, dann strömte alles, was Schottenblut hatte, aus dem näheren und weiteren Umkreis herbei.
Zu Meggies Verwunderung trugen Luke und Arne Kilts, und als sie sich von ihrer Überraschung ein wenig erholt hatte, fand sie, daß die beiden darin großartig aussahen. Es gibt nichts maskulineres als einen maskulinen Mann in einem Kilt, denn bei kraftvoll-zügigem Schritt schwingt der Schottenrock hinten wie in vielen kleinen Wellen, während der Stoff vorn völlig unbewegt bleibt und das Sporran - die beschlagene Felltasche, die zur Schottentracht gehör« - als eine Art Lendenschutz fungiert. Unter dem Saum des knielangen Kilts sieht man die kräftigen Männerbeine, ganz und gar nicht so häßlich, wie einen manche glauben machen wollen. Natürlich war das Wetter viel zu heiß für Jacke und Plaid, die an sich zur vollen Ausstattung gehörten. Luke und Arne begnügten sich mit weißen Hemden, deren Ärmel sie bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und deren Kragen sie weit offen gelassen hatten. »Was ist eigentlich ein Ceilidh?« fragte Meggie, als man gemeinsam aufbrach.
»Das ist das gälische Wort für ein Shinding - so ein Vergnügen mit Tanz und allem.«
»Und warum, um alles auf der Welt, tragt ihr Kilts?« »Ohne
Kilts läßt man uns nicht rein, und wir sind bei allen Ceilidhs zwischen Bris und Cairns gut
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