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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel
Autoren: Colleen McCoullough
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änderte sich nichts. Worüber Bob und die anderen kleinen Clearys in der Schule nur zu froh waren: So konnten sie während der Pausen herumtollen, wie es ihnen paßte, und brauchten sich nicht um ihre Schwester zu kümmern. Nach und nach begann Meggie zu begreifen, was die rätselhaften Dinge zu bedeuten hatten, die Schwester Agatha immer und immer wieder an die Wandtafel schrieb. Stand dort ein »+«, so sollte man alle Zahlen zusammenzählen, und fand sich statt dessen ein »-«, so mußte man die untere Zahl von der oberen abziehen. Meggie war ein aufgewecktes Kind und wäre eine gute, wenn nicht sogar sehr gute Schülerin gewesen, hätte sie nur ihre Angst vor Schwester Agatha überwinden können. Doch wenn sich der scharfe, wie durchbohrende Blick auf sie richtete und die alte Nonne ihr mit schnarrender Stimme eine Frage stellte, so begann sie zu stammeln und zu stottern und konnte einfach nicht denken. Rechnen fand sie leicht, doch wenn sie aufgerufen wurde und sich mündlich auszudrücken hatte, so wußte sie nicht mehr, wieviel zwei und zwei waren. Vom Lesen konnte sie einfach nicht genug bekommen, weil es der Schlüssel zu einer neuen, faszinierenden Welt zu sein schien, aber wenn sie auf Schwester Agathas Befehl aufstehen und einige Sätze laut vorlesen mußte, so brachte sie kaum ein Wort wie »Katze« klar und deutlich heraus, vom »miau« ganz zu schweigen. Stets und ständig zitterte sie vor Schwester Agathas ätzenden Bemerkungen: wenn die alte Nonne ihre Schiefertafel hochhob, um sie vor versammelter Klasse zu verhöhnen; wenn sie ihr Schreibheft herumzeigen ließ, um zu demonstrieren, was eine schlampige Arbeit sei - was gar nicht stimmte: Meggie gab sich unendlich viel Mühe damit; wenn die Kinder ihre Mitschülerin dann auslachten, immer und ewig nur oder doch hauptsächlich sie, die Meggie Cleary. Andere Kinder, jedenfalls die reicheren, besaßen Radiergummis. Meggies einziger Radiergummi war ihre Fingerspitze, die sie mit der Zunge anfeuchtete. So versuchte sie dann, dumme Fehler auszuradieren, doch war es weniger ein Radieren als ein Schmieren, und nicht selten schabte und kratzte sie so verzweifelt, daß es im Papier Löcher gab. Natürlich war es streng verboten, doch Meggie hätte fast alles getan, um nur Schwester Agathas scharfzüngigen Bemerkungen zu entgehen.
    Bevor Meggie in die Schule gekommen war, hatte Stuart als Hauptzielscheibe herhalten müssen: für Schwester Agathas Stock ebenso wie für das von ihr verspritzte Gift. Wie sich zeigte, war Meggie ein weitaus »dankbareres« Opfer als der sehr in sich gekehrte und mitunter geradezu entrückt wirkende Stuart. So tapfer sie auch versuchte, es ihren Brüdern an eingefuchster Mannhaftigkeit und Ungerührtheit gleichzutun, es wollte einfach nicht so recht gelingen. Sie wurde leicht rot, knallrot sogar, und dieses gräßliche Zittern konnte sie auch nicht unterdrücken. Sie tat Stuart sehr leid, und wenn sie wieder einmal von Schwester Agatha aufs Korn genommen wurde, so versuchte er mit irgendeinem Trick, den Blitzableiter für seine Schwester zu spielen. Die alte Nonne durchschaute das sofort, und ihre Wut steigerte sich noch: die Wut über die Clan-Verschworenheit der Clearys, die jetzt, wo das Mädchen da war, genauso bestand wie zuvor nur zwischen den Jungen. Hätte man Schwester Agatha gefragt, weshalb sie gegen die Clearys einen solchen Groll hegte, so wäre sie um eine Antwort verlegen gewesen. Aber es war wohl so, daß der alten, durch ihr Leben verbitterten Nonne eine solche Familie mit ihrem Stolz ganz einfach gegen den »Strich« ging. Meggies schlimmste Sünde bestand darin, daß sie Linkshänderin war. Als sie zum erstenmal ihren Griffel in die Hand nahm, ging Schwester Agatha auf sie los wie Cäsar auf die Gallier. »Meghann Cleary, lege den Griffel wieder hin!« donnerte sie. Und so begann ein erbitterter Kampf. Meggie war nun einmal von Natur aus Linkshänderin, was also tun? Schwester Agatha drückte ihr den Griffel in die rechte Hand. Sie preßte ihr die Finger so zusammen, daß sie den Griffel hielten. Und nun? Meggies Bewußtsein war ein schwimmendes Etwas, ohne jeden Halt, ohne richtiges Orientierungsvermögen. Wie sie mit den Fingern der rechten Hand irgend etwas schreiben sollte, schreiben konnte, begriff sie einfach nicht. Ebensogut hätte man von ihr verlangen können, das mit den Zehen zu tun.
    Als Schwester Agatha sich wieder entfernte, wechselte Meggie den Griffel rasch wieder in die linke Hand über, und
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