Die Dornenvögel
lächelnden Mutter gleichsam auf denselben Nenner zu bringen. Und so dachte sie denn auch nicht: Wenn Mum mich doch umarmen und küssen wollte. Sie dachte vielmehr: Ich wünschte, Teresas Mum würde mich mal umarmen und küssen. Aber viel faszinierender als alle etwaigen Umarmungen und Küsse war für sie der Gedanke an das wunderbare Porzellan-Service. Wie zierlich, wie zerbrechlich, wie unvergleichlich schön! Wenn sie nur auch so ein Service hätte, um Agnes in einer tiefblau weißen Tasse auf einer tiefblau weißen Untertasse den Nachmittagstee zu servieren!
Beim Danksagungsgottesdienst am Freitag in der alten Kirche - es gab dort gleichermaßen reizende wie groteske Maori-Schnitzereien und eine von Maoris bemalte Decke - kniete Meggie nieder und betete um ein eigenes Tee-Service. Als Pater Hayes die Monstranz hochhob und hinter der strahlenumwobenen Glasscheibe in der Mitte wie schimmernd die heilige Hostie erschien, waren bei der Segenserteilung die Häupter der Gläubigen gebührend gebeugt - bis auf das Haupt Meggies, welche die Hostie nicht einmal wahrnahm, denn sie war vollauf damit beschäftigt, aus der Erinnerung nachzuzählen, wie viele Teller eigentlich zu Teresas Service gehörten. Und als die Maoris oben auf der Orgelempore jubelnde Gesänge anstimmten, schwebte Meggies Kopf wie in einem Gespinst aus Ultramarin - und aller Katholizismus war
ihr genauso fern wie alles rätselhaft Polynesische.
Das Schuljahr neigte sich dem Ende zu, im Dezember stand Meggies Geburtstag bevor - man näherte sich dem Hochsommer -, als Meggie die bittere Erfahrung machen mußte, wie unendlich teuer man oft die Erfüllung seiner Herzenswünsche bezahlt. Sie saß auf einem hohen Stuhl beim Herd, und wie stets vor der Schule frisierte ihre Mutter sie, was Zeit und Konzentration erforderte. Meggie besaß Naturlocken, was Fee für einen beträchtlichen Vorteil hielt. Mädchen mit glattem Haar hatten doch ziemlich große Schwierigkeiten, genügend »Fasson« hineinzubekommen, was recht ärgerlich war, zumal wenn sie älter wurden.
Die Prozedur am Morgen war stets diese: Zunächst wurden die Stoffetzen gelöst, die Meggie die Nacht über als Lockenwickler getragen hatte, sodann begann Fee Meggies Haar zu kämmen. Oder nein: zu bürsten, sehr sorgfältig und fast schon rituell. Eine alte Mason-Pearson-Haarbürste benutzend, nahm sie eine von Meggies noch »kringeligen« Locken in die linke Hand und bürstete das Haar dann überaus geschickt und gekonnt um ihren Zeigefinger, bis es eine glänzende dicke Rolle bildete. Dann zog sie ihren Zeigefinger hervor und schwenkte oder schüttelte die Haarrolle zur langen, beneidenswert dicken Locke: zur Stocklocke. Dieses Manöver wiederholte sie etwa ein dutzendmal. Sodann wurden die vorderen Locken mit einer Taftschleife auf Meggies Kopf hochgebunden, und sie war für den Tag frisiert. Alle anderen kleinen Mädchen trugen in der Schule ihr Haar in Flechten, eine Lockenfrisur blieb besonderen Gelegenheiten vorbehalten. Doch in diesem Punkt war Fee eisern: Meggies Haar sollte immer in Locken liegen, auch wenn es noch so schwerfiel, morgens die Zeit dafür zu erübrigen. Fee wußte nicht, daß ihre Anstrengungen im Grunde überflüssig waren, denn das Haar ihrer Tochter wäre so oder so das schönste in der ganzen Schule gewesen - und die alltäglich erneut vorgeführte Pracht
erzeugte bei vielen nur Neid.
Im übrigen war das morgendliche Frisieren eine schmerzhafte Prozedur, was Meggie jedoch kaum noch bewußt wurde, so lange war sie schon daran gewöhnt. Fee bürstete das Haar mit überaus kräftigen Strichen. Natürlich hatten sich in der Nacht überall »verwuschelte« Strähnen gebildet, und dort mußte die Bürste hindurch, koste es, was es wolle. Fee zögerte denn auch keinen Augenblick. Sie riß die Bürste buchstäblich durch das widerspenstige Haar; das geschah mit soviel Kraft, daß Meggie sich mit beiden Händen an ihrem Sitz festhalten mußte, um nicht herunterzufallen, während ihr der nur noch unterbewußt registrierte Schmerz das Wasser in die Augen trieb.
Es war am Montag der letzten Schulwoche. Während Fee die Bürste schwang, träumte Meggie, an ihren Stuhl geklammert, den Traum ihrer Träume: den Traum vom Tee-Service. Doch sie wußte, daß es nur ein Traum war. Im Wahine General Store gab es zwar so ein Service zu kaufen, doch was nützte das? Und was nützte es, daß sie in zwei Tagen Geburtstag hatte? Woher hätte ihr Vater, hätten ihre Eltern das Geld nehmen
Weitere Kostenlose Bücher