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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel
Autoren: Colleen McCoullough
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während sie den rechten Arm wie zum Schutz um drei Seiten der Schiefertafel legte, begann sie, eine Reihe geradezu gestochener As zu schreiben. Natürlich kam Schwester Agatha ihr auf die Schliche, und sie war es auch, die den Kampf gewann. Eines Morgens band sie Meggie den linken Arm mit einem Strick auf den Rücken und dachte nicht daran, ihn wieder loszubinden, ehe am Nachmittag um drei die Glocke den Schulschluß anzeigte. Selbst in der Mittagspause auf dem Hof mußte Meggie mit gefesseltem Arm herumlaufen. Die Prozedur dauerte insgesamt drei Monate, und am Ende konnte sie dann, wie zumindest Schwester Agatha befand, »korrekt« schreiben, wennschon es mit Meggies Schönschrift nie weit her war. Damit sie nicht in ihre alte Sünde zurückfiel, mußte sie den festgebundenen Arm noch weitere zwei Monate ertragen. Dann betete Schwester Agatha vor der versammelten Schule einen Rosenkranz als Dank an den Allmächtigen, dessen Weisheit Meggie von ihrem Irrweg auf den rechten Pfad geführt habe, sehr buchstäblich wohl auf den rechten’, denn die Kinder Gottes waren alle rechtshändig, während es sich bei Linkshändern um Teufelsbrut handelte, zumal bei rothaarigen Linkshändern.
    In diesem ersten Schuljahr verlor Meggie ihren Babyspeck, wurde sehr dünn, wuchs jedoch ein wenig. Sie begann, ihre Fingernägel bis zum Fleisch abzukauen - und mußte dann, auf Schwester Agathas Befehl, in der Schule von Pult zu Pult gehen, damit die Kinder sehen konnten, wie häßlich abgekaute Nägel waren. Dabei kaute nahezu die Hälfte der Kinder zwischen fünf und fünfzehn Jahren genauso übel an den Fingernägeln wie Meggie.
    Fee holte die Flasche mit Bitter-Aloe hervor und strich dem Mädchen von dem furchtbaren Zeug auf die Fingerspitzen. Alle mußten sorgfältig aufpassen, daß sie keine Gelegenheit fand, die Tinktur abzuspülen; und als ihre kleinen Mitschülerinnen in der Klasse die verräterischen braunen Spuren an ihren Fingerspitzen entdeckten, war das für sie eine
    tiefe Demütigung.
    Steckte sie, was natürlich geschah, ihre Finger auch jetzt noch in den Mund, so spürte sie einen geradezu unglaublich widerlichen Geschmack und nahm ihr Taschentuch und spie und spuckte hinein, um ihn wieder loszuwerden. Zu Hause nahm Paddy die Rute, die sich im Vergleich zu Schwester Agathas Stock geradezu sanft ausnahm, und dann ließ er Meggie durch die Küche tanzen: Er war strikt dagegen, Kinder ins Gesicht oder auf die Hände zu schlagen, und schlug nur gegen die Beine. Wenn es denn schon sein müsse, meinte er, nun gut - an den Beinen täte es genauso weh, könne jedoch keinen Schaden anrichten. Doch es schien alles nichts zu nutzen. Trotz Bitter-Aloe, trotz Hohn und Spott, trotz Schwester Agathas Stock und Paddys Rute kaute Meggie nach wie vor ihre Nägel.
    Das Schönste in ihrem Leben war für sie die Freundschaft mit Teresa Annunzio, es war das einzige, was ihr die Schule erträglich machte. Während des Unterrichts wartete sie ungeduldig auf die Pause, in der sie dann mit Teresa engumschlungen unter dem großen Feigenbaum sitzen konnte und mit ihr reden, reden, reden, wie sie es immer taten, wenn sich die Gelegenheit dazu fand: sprechen, über so vieles - über Teresas so eigentümlich fremdländische Familie, über ihre vielen Puppen, über ihr Tee-Service aus echt chinesischem Porzellan. Als Meggie das Tee-Service sah, war sie überwältigt. Es bestand aus 108 Einzelteilen - winzige Tassen und Untertassen und Teller, eine Teekanne, ein Zuckernapf, Kännchen für Milch und für Sahne, winzige Messer und Löffel und Gabeln; winzig war ja alles, sehr winzig sogar, denn es war ein Tee-Service für Puppen. Teresa hatte so viele Spielsachen, daß man sie kaum noch zählen konnte. Sie war das Nesthäkchen, viel jünger als ihre nächstältere Schwester, und da es sich um eine italienische Familie handelte, wurde sie von allen innig und offen und ohne falsche Zurückhaltung geliebt - und mit Beweisen dieser Liebe mehr oder minder überschüttet. So sehr sich die beiden Mädchen in praktisch allem auch wechselseitig bewunderten und beneideten, in diesem Punkt empfand Teresa für Meggie eher Mitleid: nicht zu seiner Mutter laufen dürfen und sie umarmen und küssen, wie es einem ums Herz war? Arme Meggie.
    Wie hätte eine kleine Italienerin auch begreifen sollen, was es mit einer kalvinistischen Erziehung auf sich hatte? Meggie wiederum war es unmöglich, Teresas füllige, breit lächelnde Mutter mit ihrer eigenen schlanken und nie
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