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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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Bedeutung angenommen, während für ihn die Episode Episode blieb. Offenbar nährte sie seitdem bestimmte Träume und Wünsche ... Nun, er mußte es sich wohl eingestehen, daß er sie seit jenem ersten Kuß körperlich begehrte, und doch war dieses Verlangen nach ihr nie von ähnlich verzehrender Wirkung auf ihn gewesen wie seine Liebe für sie. Denn bis jetzt hatte er beides, Verlangen und Liebe, als voneinander völlig getrennte, ja als gegensätzliche Dinge gesehen und nicht als Facetten des einen und selben ... bis jetzt ...
    Hätte es für ihn in diesem Augenblick eine Möglichkeit gegeben, Matlock Island zu verlassen, so wäre er geflohen wie Orest vor den Eumeniden. Doch diese Möglichkeit gab es nicht. Und statt einfach wie blind davonzulaufen in die Nacht, hatte er den Mut, hier in der Cottage bei Meggie zu bleiben und sich der Wirklichkeit zu stellen.
    Denn ich liebe Meggie. Und wenn ich sie liebe, dann deshalb, weil sie so ist, wie sie jetzt ist, und nicht, wie ich sie in Erinnerung habe als das kleine, hilflose Mädchen auf dem Bahnhofsplatz. Es war jenes so überaus Weibliche an ihr, das er liebte. Schon in dem kleinen Mädchen war das nicht nur zu ahnen, sondern zu spüren gewesen, und schon damals hatte er diesen so ausgeprägten Zug ihres Wesens geliebt.
    Wirf endlich die Scheuklappen ab, Ralph de Bricassart! Sieh sie ganz so, wie sie jetzt ist. Sechzehn Jahre sind vergangen seit jenem Tag auf dem staubigen Bahnhofsplatz, sechzehn unglaublich lange Jahre, ich bin vierundvierzig, sie ist sechsundzwanzig. Nein, Kinder sind wir beide nicht, doch sie, sie ist bei weitem reifer als ich.
    Meggie, dachte er, als ich aus Rob Walters Auto stieg, hast du geglaubt zu wissen, aus welchem Grund ich gekommen war. Und ich? Ich hatte nichts Eiligeres zu tun, als dir zu beweisen, wie sehr du dich doch irrtest. Ich mußte dir demonstrieren, wie sehr zwischen uns doch noch alles genau wie früher war. Oder mußte ich es nicht vielmehr mir selbst demonstrieren? Gott, wie grauenvoll egoistisch bin ich doch. Das einzig Wichtige scheint mir zu sein, daß ich mich selbst bestätige. Meggie, Meggie, deine Liebe und meine Liebe - all diese Jahre sind sie aneinander vorbeigegangen.
    Noch immer hielt sie ihren Blick voll auf ihn gerichtet. In rascher Folge, so hatte sie genau beobachten können, wechselte auf seinem Gesicht der Ausdruck: eine weitgespannte Skala, die wohl beim Mitleid für sie begann und schließlich einmündete in die Erkenntnis dessen, was sie bei seiner Ankunft als selbstverständlichen Grund angenommen hatte: daß er zu ihr kam, der Frau, und nicht mehr zu Meggie, dem kleinen Mädchen.
    Und dies war auf einmal das Schlimmste für sie, das Gefühl, daß er wußte, was sie gedacht hatte, und die Beschämung darüber.
    Und plötzlich dachte sie, dachte es in ihr: Nur fort, fort! Solange in dir noch ein Funken Stolz, ein Funken Selbstachtung ist.
    Sie war aufgesprungen, doch bevor sie die Veranda erreichen konnte, hatte er sie eingeholt. Seine Hand streckte sich nach ihr, hielt sie am Arm fest. Vom eigenen Schwung herumgerissen, prallte sie so hart gegen ihn, daß er einen Augenblick schwankte, taumelte. Doch in ihm, da war kein Schwanken, kein Taumeln. Was so viele Jahre wie im Schlummer gelegen hatte, was niedergehalten worden war durch Willensstärke, unterjocht durch eiserne Selbstdisziplin - jetzt genügte sozusagen der Funken eines Funkens, um eine Detonation auszulösen und alles hinwegzufegen.
    Im selben Augenblick, da er sie umarmte, schlangen sich ihre Arme um seinen Hals. In derselben Sekunde, da sein Mund ihren Mund suchte, forschten ihre Lippen nach seinen Lippen. Und diesmal war es kein flüchtiger Kuß, kein halb zufälliges Gegeneinanderstreifen. Diesmal war es Hunger, ja Gier, war es ersehntes Verlangen und erschreckendes Begehren zugleich. Diesmal wollte und konnte er sich nicht mehr versagen, was er sich so lange versagt hatte - nicht nur sie als Frau, sondern den bloßen Gedanken daran, daß sie eine Frau war. Hatte er sie hochgehoben und zum Bett getragen? Er wußte es nicht mehr, jede Erinnerung daran fehlte. Er wußte nur, daß sie jetzt beide dort lagen, ihre Haut unter seinen Händen, seine Haut unter ihren. O Gott! Meine Meggie, meine Meggie! Wie hat man nur versuchen können, mir weismachen zu wollen, daß du nichts bist als eine Profanierung?
    Die Zeit verlor ihr tickendes Gleichmaß, wurde zum Strom, der über ihn hinwegflutete, bis sie keine Bedeutung mehr besaß, dafür jedoch eine

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