Die Dornenvögel
zuwandte, während sie ihre Augen starr auf eine kleine Palme gerichtet hielt, die in der Nähe jener Verandatür zu erkennen war, welche auf die Straße hinausging. »Was ist denn, Meggie?« fragte er so sanft und so zart, daß ihr Herz sofort wild zu klopfen begann - und zu sterben schien vor Schmerz, denn offenbar war es so, wie es stets gewesen war: daß er, der erwachsene Mann, kam, um nach ihr, dem kleinen Mädchen, zu sehen. Er war nicht nach Matlock gekommen, um die Frau zu besuchen, sondern das Kind. Die Frau hatte er wohl von jenem Moment an gehaßt, da er zu begreifen begann, daß es sie gab. Voll wandte sie ihm jetzt ihr Gesicht zu, und aus ihrem Blick sprachen Verwunderung und Empörung und Zorn. Etwas Sonderbares geschah. Wie ein rückwärts laufender Filmstreifen jagte die Zeit zurück zu jenem Punkt, da sich, auf dem staubigen Bahnhofsplatz von Gilly, der Priester zu dem kleinen Mädchen gebeugt hatte. Was er sah, waren genau dieselben Augen wie damals, Meggies Augen, die ihn in ihren Bann zogen, schier unwiderstehlich, es waren die Augen der kleinen Meggie. Doch dann begriff er plötzlich, daß es nicht nur diese Augen waren, die Augen des Kindes, oder vielmehr: daß ihn aus diesen Augen, die für ihn die gleiche Faszination besaßen wie eh und je, jetzt die Frau anblickte.
Was er zu Anne Müller gesagt hatte, war genauso gemeint gewesen, wie er es sagte. Er wollte Meggie besuchen, weiter nichts. Er liebte sie, doch als ihr Liebhaber kam er nicht. Er wollte sie wiedersehen, mit ihr sprechen, ihr ein guter Freund sein, auf der Wohnzimmer-Couch schlafen. Gleichzeitig war es seine Absicht, endlich einer Frage, dieser Frage auf den Grund zu kommen: worin Meggies scheinbar unabänderliche Faszination für ihn bestand. Fand er die volle Antwort auf diese Frage, so konnte es ihm vielleicht gelingen, eben diese Faszination zum Erlöschen zu bringen. Es war ihm früher wirklich nicht leichtgefallen, sich mit dem Gedanken auszusöhnen, daß Meggie nun den Körper einer Frau mit völlig unübersehbaren weiblichen Attributen besaß. In einem jedoch schien sie sich unwandelbar gleichzubleiben. Stets zeigte sich in ihren Augen jenes Licht, das er schon beim allerersten Mal dort entdeckt hatte und das dem schimmernden Glanz eines Lämpchens in einem Heiligtum glich. Ja, dies war seine Meggie, war unverändert das Kind, das er seit jeher so liebte, und solange das so blieb, konnte er den veränderten Körper sozusagen in Kauf nehmen, konnte die Anziehungskraft, die dieser zweifellos besaß, ohne allzu große Mühe unter Kontrolle halten. Und irgendwie hatte er stets als selbstverständlich vorausgesetzt, daß es Meggie ihm gegenüber nicht anders erging. Gewiß konnte sie die Wirkung, die er rein physisch auf sie ausüben mochte, ohne besondere Schwierigkeiten ausschalten. So hatte er geglaubt oder doch glauben wollen, bis dann ... Eine wilde, bis zum äußersten gereizte Katze schien ihn anzufauchen, als er damals, kurz nach Justines Geburt, im Schlafzimmer bei Meggie saß. Aufgestautes schien sich zu entladen wie bei einem Gewitter, und manches, was sie sagte, nein, schrie, traf ihn tief, verletzte ihn. Später jedoch, nachdem seine Verärgerung und seine Verstörung abgeklungen waren, schob er Meggies Ausbruch darauf, daß sie wie von Sinnen gewesen war vor Schmerz, und zwar weniger vor körperlichem als vor seelischem.
Ja, so hatte er geglaubt oder doch glauben wollen bis zu dieser Minute, da er in den Kindaugen plötzlich den Blick der Frau entdeckte: da ihm dies zum ersten Mal voll bewußt wurde. Und jetzt erinnerte er sich auch wieder an jene Szene auf dem Friedhof auf Drogheda, wo er nach Mary Carsons Geburtstagsparty mit Meggie gesprochen hatte. Deutlich trat es in sein Gedächtnis, hob sich ganz scharf hervor. Wie er damals zu ihr sagte, er könne sie nicht mehr mit besonderer Aufmerksamkeit bedenken, da man sonst glauben werde, er interessiere sich für sie nicht als Priester, sondern als Mann; wie sie ihn ansah mit einem so eigentümlichen Blick, der ihm unverständlich blieb, wie sie den Kopf abwandte und wie dann, als sie ihn wieder ansah, dieser sonderbare Ausdruck aus ihren Augen verschwunden war.
Erst jetzt wurde ihm klar, daß sie ihn von jenem Zeitpunkt an in einem anderen Licht gesehen hatte. Und der Kuß, den sie ihm damals gab, war ganz und gar nicht jenes flüchtige Zwischenspiel gewesen, das eine Bedeutung, eine wirkliche Bedeutung, nie und nimmer annehmen konnte. Für sie hatte es diese
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