Die Dornenvögel
dieses Talent habe ich auch sehr nachdrücklich gepflegt. Es war unausweichlich, daß man mich eines Tages berufen würde.« »Nun, Euer Exzellenz - falls Sie nicht schon morgen nach Rom abreisen, könnten Sie Meggie noch sehen.«
Die Worte waren heraus, bevor Anne sie zurückhalten konnte. Doch welchen Sinn sollte das eigentlich haben, wenn er doch offenbar für lange, ja, sehr lange Zeit wegging? Aber die Antwort darauf war einfach. Eben darin hatte ein letztes Zusammentreffen seinen Sinn.
Er wandte Anne sein Gesicht zu, musterte sie aufmerksam. Diese so schönen blauen Augen, die so eigentümlich entrückt und so klug wirkten, sie ließen sich gewiß nicht so leicht täuschen. O ja, er war ein geborener Diplomat! Er wußte sehr genau, was sie soeben gesagt hatte, und zweifellos begriff er auch jedes ihrer Motive. Atemlos wartete sie auf seine Antwort, doch er schwieg lange, sehr lange. Das Baby halbvergessen in der Ellbogenbeuge, blickte er über die Verandabrüstung zum Zuckerrohr und zum Fluß. Fasziniert betrachtete sie sein Profil - das gewölbte Augenlid, die gerade Nase, den eigentümlich verschlossen wirkenden Mund, das energische Kinn. Was überlegte, was grübelte er? Welche Kräfte in ihm strebten da widereinander? Liebe und Sehnsucht, Pflichtgefühl und Willenskraft, so manches mehr? Er hob die Hand, welche die Zigarette hielt, an die Lippen, und Anne sah, daß seine Finger zitterten. Unhörbar blies sie die in ihrer Lunge aufgestaute Luft ab: Nein, er war nicht gleichgültig, ganz und gar nicht.
Er schwieg eine halbe Ewigkeit, Minuten. Anne rauchte eine zweite Capstan für ihn an, gab sie ihm, als er mit der ersten fertig war, wortlos. Er machte einen Zug nach dem anderen, löste seinen Blick keine Sekunde von den fernen Bergen und den Monsunwolken, die tief und schwer am Himmel hingen.
»Wo ist sie?« fragte er schließlich mit ruhiger und völlig normal klingender Stimme, während er das Ende der zweiten Zigarette über die Verandabrüstung warf.
Anne wußte, von ihrer Antwort hing seine Entscheidung ab, und so war es jetzt also an ihr, sich alles sehr sorgfältig zu überlegen. War es richtig, andere Menschen auf einen Weg zu leiten, von dem man nicht wußte, wohin er überhaupt führte? Verpflichtungen empfand sie nur Meggie gegenüber. Was mit diesem Mann wurde, konnte ihr gleichgültig sein. In gewisser Weise ließen er und Luke sich auf einen Nenner bringen. Beide stellten das, worauf sie im Leben aus waren und was ihnen so etwas wie eine männliche Daseinserfüllung bedeutete, über die wirkliche Existenz, das tatsächliche Vorhandensein einer Frau. Wirre Träume vernebelten beiden die Köpfe, doch sie würden wohl weiter und immer weiter ihren Phantasien nachjagen, der eine dem Zuckerrohr und der andere - seinem Zuckerrohr. Dabei war Anne inzwischen davon überzeugt, daß er Meggie mehr liebte als alles andere auf der Welt - außer seinem so fremdartigen Ideal. Nein, nicht einmal Meggie zuliebe würde er die Hoffnung auf die spätere Erfüllung seiner tiefsten Sehnsüchte und Wünsche aufgeben. Hätte sie, Anne, ihm jetzt geantwortet, Meggie befindet sich in einem überfüllten Urlaubshotel, so wäre er gewiß nicht bereit gewesen zu reisen. Man hätte ihn dort ja erkennen können. Schließlich war er sich sehr wohl bewußt, daß er nicht zu jenem Typ gehörte, der unauffällig in der Menge untertauchen konnte. Sacht fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen, räusperte sich kurz. »Meggie befindet sich in einer Cottage auf Matlock Island.« »Wie heißt die Insel?«
»Matlock Island. Das ist so eine Urlaubsinsel gleich bei der Whitsunday Passage, und sie ist eigens für solche Leute gedacht, die ganz für sich und völlig ungestört bleiben wollen. Um diese Jahreszeit ist ohnehin kaum eine Seele dort.« Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen. »Keine Sorge, dort sieht Sie niemand.« »Wie beruhigend.« Sehr behutsam löste er das schlafende Baby aus seiner Ellbogenbeuge und reichte es Anne. »Ich danke Ihnen«, sagte er, während er zur Treppe ging. Dort drehte er sich noch einmal um, und in seinen Augen war ein eigentümlicher, wie um Verständnis bittender Ausdruck. »Sie irren sich«, sagte er. »Ich möchte sie nur sehen, mehr nicht. Nie würde ich etwas tun, das ihre unsterbliche Seele in Gefahr bringen könnte.«
»Und Ihre eigene auch nicht, wie? Dann dürfte es das beste sein, wenn Sie sich als Luke O’Neill ausgeben - er wird nämlich erwartet. Auf diese Weise können
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