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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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die uralten römischen Säulen, deren
    Fundamente tief im Staub der Jahrhunderte ruhten. Nun, für ihn war dies alles entbehrliches Beiwerk. Das einzige, was in seinen Augen zählte, war der Vatikan, seine prachtvoll ausgestatteten öffentlichen Räume, seine schlicht eingerichteten privaten Gemächer.
    Ein schwarz und weiß gekleideter Dominikaner führte ihn durch hohe Marmorkorridore, wo man Bronze- und Steinstatuen sah und großartige Gemälde im Stil von Giotto und Raphael und Botticelli und Fra Angelico. Hier befand er sich in den öffentlichen Räumen eines großen Kardinals, und zweifellos hatte die reiche Familie Contini-Verchese so manches dazu beigetragen, um dem erhabenen Sproß dieses Geschlechts eine würdige Umgebung zu gewährleisten. In einem Raum, der in Elfenbein und Gold gehalten und zudem geschmückt war mit den Farben der Wandteppiche und Gemälde, des französischen Mobiliars und anderem mehr - irgendwie schien alles hinüberzuspielen ins Scharlachrote -, saß Vittorio Scarbanza Kardinal di Contini-Verchese. Er streckte seine kleine, glatte Hand zum Willkommen aus, und Erzbischof Ralph de Bricassart trat auf ihn zu und kniete nieder und nahm die Hand, um den Ring zu küssen. Und dann schmiegte er plötzlich seine Wange gegen die Finger. Er wußte, daß er nicht lügen konnte, obwohl eben dies seine Absicht gewesen war bis zu dem Augenblick, da seine Lippen das Symbol berührten, das geistliche Macht bedeutet, auf Zeit übertragen.
    Kardinal di Contini-Verchese legte seine andere Hand auf die vorgebeugte Schulter des Erzbischofs. Mit einem Nicken entließ er den Mönch, und als sich die Tür leise hinter dem Dominikaner schloß, hob sich die Hand des Kardinals von der Schulter des Erzbischofs zu dessen schwarzem Haupthaar, verweilte einen Augenblick in der noch dichten, dunklen Fülle, strich es sacht aus der halb abgewandten Stirn zurück. Schon hatte eine Wandlung eingesetzt, noch nicht allzu stark bemerkbar; doch in absehbarer Zeit würde das Haar nicht mehr schwarz sein, sondern eisgrau.
    Der gebeugte Rücken richtete sich auf, die gekrümmten Schultern strafften sich, Erzbischof de Bricassart hob den Kopf und blickte dem Kardinal direkt ins Gesicht.
    O ja, da war eine Wandlung vor sich gegangen - und nichts, was nur die Haarfarbe betraf. Der Ausdruck des Mundes wirkte verändert, verletzlicher als zuvor, Schmerz schien sich darin auszusprechen. Die Augen, in Form wie Farbe von auffallender Schönheit, waren dieselben wir früher, doch keineswegs die gleichen. Auch sie hatten sozusagen eine Wegstrecke hinter sich, während der sie gewandelt worden waren.
    Stets hatte Kardinal di Contini-Verchese sich die Augen Jesu blau vorgestellt, blau wie die Augen Ralphs, die ihnen - in seiner Vorstellung- auch sonst ähnlich waren: ruhig und still, allem enthoben und gerade deshalb fähig, alles zu umfassen, alles zu verstehen. Aber vielleicht war das eine sehr irrige Vorstellung gewesen. Wie konnte man für die Menschheit empfinden und selbst leiden, ohne daß sich das in den Augen zeigte? »Kommen Sie, Ralph, nehmen Sie Platz.« »Euer Eminenz, ich möchte beichten.«
    »Später, später! Zunächst werden wir uns unterhalten, und zwar auf Englisch. Heutzutage gibt es überall Ohren, doch dank unserem lieben Herrn Jesus sind es nicht unbedingt Ohren, die Englisch verstehen. Setzen Sie sich doch, Ralph, bitte! Oh, es tut ja so gut. Sie wiederzusehen! Ich habe Ihren weisen Rat vermißt. Ihre Umsicht und Klugheit, die Art Ihrer Gesellschaft. Wen immer man mir an Ihrer Stelle gab, ich habe ihn nicht halb so sehr geschätzt wie Sie.« Während Ralph de Bricassart noch kniete, konnte er förmlich fühlen, wie es sich nicht nur um ihn, sondern auch in ihm veränderte: wie das Formelle in ihm selbst Platz griff. Mehr als den meisten Menschen war ihm bewußt, daß je nach Umgebung jeder Mensch graduell ein anderer wird. Für diese Ohren hier schien ein zwangloses Umgangsenglisch kaum geeignet, und so ergab sich ganz automatisch die Notwendigkeit einer stilisierten, einer - behutsam ausgedrückt - akademischen Sprache.
    In kurzer Entfernung setzte er sich ihr gegenüber, der kleinen, rotgekleideten Gestalt, die weniger hervorzustechen schien aus dem Interieur, als vielmehr einzuschmelzen ins Gold und Rot des Dekors. Zum ersten Mal seit Wochen hatte er das Gefühl, daß sich die furchtbare Müdigkeit minderte, die unablässig auf seinen Schultern gelastet hatte. Plötzlich begriff er nicht mehr, weshalb er sich

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