Die Dornenvögel
In seinen Augen spiegelte sich der innere Konflikt in einer Weise wider, wie seine Worte das nicht auszudrücken vermochten, nicht in diesem Raum. »Und doch, Vittorio«, fuhr er fort, »schien es in gewisser Weise gar keine andere Wahl für mich zu geben. Entweder hätte ich sie ruiniert oder aber mich selbst. Ja, ich glaubte ganz fest, daß es gar keine andere Wahl geben konnte. Denn ich liebe sie. An ihr lag es gewiß nicht, daß ich stets zurückscheute vor dem körperlichen Ausdruck der Liebe. Nun jedoch wurde ihr Schicksal wichtiger als mein eigenes, verstehen Sie. Bis zu jenem Augenblick hatte ich mir selbst immer den Vorrang gegeben, hatte mich für wichtiger gehalten als sie, da ich doch ein Priester war und sie ein geringeres Wesen. Aber ich begriff, daß ich verantwortlich war für das, was sie ist. Ich halte mich ganz und gar von ihr lösen müssen, als sie noch ein Kind war, doch das tat ich nicht. Ich behielt sie in meinem Herzen, und sie wußte es. Hätte ich mich innerlich von ihr gelöst, so hätte sie auch das gewußt - und wäre jemand geworden, den ich nicht beeinflussen konnte.« Er lächelte. »Wie Sie sehen, habe ich viel zu bereuen. Ich wollte ein wenig den Schöpfergott spielen.« »Es war die Rose?«
Der Erzbischof legte den Kopf in den Nacken zurück. Er blickte zur reichverzierten Decke und zum barocken Murano- Kronleuchter. »Wer sonst hätte es sein können? Sie ist mein einziger Versuch, was die Schöpfung betrifft.«
»Und was wird werden mit ihr, der Rose? Haben Sie ihr hierdurch mehr Schaden zugefügt, als es der Fall gewesen wäre, wenn Sie sich ihr verweigert hätten?«
»Ich weiß es nicht, Vittorio. Ich wünschte, ich wüßte es! Es schien das einzig Richtige zu sein. Aber ich verfüge nun einmal nicht über die Gabe der Vorsehung, und wenn man mit seinen Gefühlen so unmittelbar beteiligt ist, kann man das nur schwer beurteilen. Außerdem ist ... ja, es ist ganz einfach geschehen! Aber am meisten, glaube ich, brauchte sie vielleicht, was ich ihr gab, die Anerkennung ihrer Identität als Frau. Damit meine ich nicht, daß sie nicht wußte, daß sie eine Frau war. Ich meine damit, daß ich es nicht wußte. Hätte ich sie als erwachsene Frau kennengelernt, so wäre das alles vielleicht ganz anders gewesen. Aber ich kannte sie ja viele Jahre als Kind.«
»Wissen Sie, Ralph, daß das aus Ihrem Mund noch alles recht dünkelhaft klingt? Mir scheint, für eine Vergebung sind Sie noch nicht bereit. Es schmerzt, nicht wahr? Tut sehr weh. Daß Sie Mensch genug waren, um einer menschlichen Schwäche anheimzufallen. Ist es denn wirklich in einem solchen Geist edler Selbstaufopferung geschehen?«
Verblüfft blickte Ralph in die glänzenden braunen Augen und sah sich in ihnen gespiegelt: links und rechts, eine
Doppelgestalt gleichsam, doch von winzigen, völlig unbedeutenden Ausmaßen. »Nein«, sagte er. »Ich bin ein Mann, und als Mann fand ich eine Freude, ja eine Lust an ihr, von der ich mir nicht hätte träumen lassen. Ich habe nicht gewußt, daß man eine Frau so ... so fühlt. Oder daß sie der Quell einer solch tiefen Freude sein kann. Ich wollte sie nie mehr verlassen, nicht nur ihres Körpers wegen, sondern weil ich es einfach liebte, mit ihr zusammen zu sein, mit ihr zu sprechen, mit ihr zu schweigen, die Mahlzeiten zu essen, die sie kochte, sie anzulächeln, ihre Gedanken zu teilen. Ich werde sie vermissen, solang ich lebe.« Plötzlich entdeckte er in dem schmalen, asketischen Gesicht seines Gegenübers etwas, das ihn an Meggie erinnerte: den Ausdruck auf ihrem Gesicht im Augenblick des Abschieds auf Matlock. Aber was war es nur, das die Ähnlichkeit ausmachte? Offenbar dies: das Aufheben einer Last und das entschlossene Voranschreiten auf dem Weg, der Bürde und allen Schmerzen und aller Pein zum Trotz. Was mochte er wohl erfahren und erlebt haben, der rotgewandete Kardinal, dessen einzige menschliche Schwäche, wenn man so wollte, die Hinwendung zu einer trägen Abessinier-Katze zu sein schien?
»Ich kann nicht bereuen, was ich in dieser Weise mit ihr hatte«, fuhr Ralph de Bricassart fort, als der Kardinal weiterhin schwieg. »Ich bereue den Bruch feierlich abgelegter Gelübde, die mir so teuer waren wie mein eigenes Leben. Nie wieder werde ich meinen priesterlichen Pflichten im selben Licht oder mit dem gleichen Eifer nachkommen können. Das bereue ich zutiefst. Aber wie ist es mit Meggie?« Der Ausdruck auf seinem Gesicht, als er den Namen aussprach, ließ den Kardinal
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