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Die Dornenvögel

Die Dornenvögel

Titel: Die Dornenvögel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colleen McCoullough
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auf den Boden und trat auf den Soldaten zu. Er schob eine Hand unter sein Kinn, hob seinen Kopf höher. Die Augen des Jungen, denn viel mehr war er noch nicht, wirkten dunkel: tief dunkel jetzt in der Dunkelheit. »Was ist los?« fragte Ralph de Bricassart und lachte dann. »Da haben wir’s wieder! Du kannst es nicht wissen, aber das ist in meinem Leben sozusagen meine Hauptfunktion gewesen - Leute zu fragen, was los ist. Und, glaube mir, es ist eine Frage, die mir schon viel Verdruß eingetragen hat.«
    »Ich bin gekommen, um zu beten«, sagte der junge Soldat mit einer Stimme, die für sein Alter zu tief klang. »Und dann bist du hier eingeschlossen worden, ja?« »Ja. Aber das - das ist es eigentlich gar nicht.«
    Der Erzbischof hob seine Taschenlampe wieder auf. »Nun, wir können nicht die ganze Nacht hier bleiben, und für die großen Türen habe ich keinen Schlüssel. Komm also mit.« Sie schritten auf die private Treppe zu, die zum Päpstlichen Palais führte. »Auch ich war hierhergekommen, um zu beten«, fuhr der Erzbischof mit leiser Stimme fort. »Dank eurem Oberkommando war dies ein zu wenig schöner Tag, das heißt, für uns hier im ... « Er brach ab. »Wenn man uns jetzt so beieinander sieht, nimmt hoffentlich niemand hier an, daß ich arretiert worden bin.« Er lachte. »Nein, nein, man wird schon erkennen, wer hier wen geleitet.«
    Danach gingen sie etwa zehn Minuten schweigend nebeneinander her: durch Korridore, hinaus in offene Höfe und Gärten, wieder in ein Gebäude, mehrere Gänge entlang, eine Treppe hinauf. Nur zu bereitwillig schien der junge Deutsche seinem Gastgeber zu folgen, denn er hielt sich ganz dicht bei ihm. Schließlich öffnete der Erzbischof eine Tür und führte den Soldaten in einen kleinen Aufenthaltsraum, der sehr einfach und recht spärlich möbliert war. Er knipste eine Lampe an und machte die Tür zu.
    Sekundenlang standen sie einander gegenüber. Erst jetzt hatte jeder von ihnen Gelegenheit, den anderen ein wenig genauer zu betrachten. Der deutsche Soldat sah einen sehr hochgewachsenen Mann mit einem Gesicht von ausgesprochen feiner Prägung und blauen, klarblickenden Augen; Erzbischof de Bricassart sah ein Kind, das man in die Uniform gesteckt hatte, die in ganz Europa so gefürchtet war. Ja, ein Kind; denn älter als achtzehn konnte dieser Junge auf gar keinen Fall sein. Von Durchschnittsgröße, wirkte er jetzt zwar eher schmächtig, versprach jedoch später einmal ein recht kräftiger Mann zu werden. Sein Gesicht war südländisch dunkel und von aristokratischem Schnitt, überaus attraktiv. Große, dunkelbraune Augen wurden von langen schwarzen Wimpern überschattet, und das Kopfhaar, gleichfalls schwarz, lag in prachtvollen Naturwellen. Mochte er auch ein einfacher Soldat sein, ein einfacher - das heißt, gewöhnlicher - Mensch war er offenbar nicht; das jedenfalls stand für den Erzbischof fest. Dieser Junge interessierte ihn plötzlich mehr, als es wohl jener fiktive »einfache Mensch« getan haben könnte, nach dem er sich jetzt doch so sehr gesehnt hatte. »Nimm doch Platz«, sagte er zu dem Soldaten und holte aus einem Schränkchen eine Flasche Marsala-Wein. Er schenkte zwei Gläser voll, reichte eines dem Jungen und ging mit dem anderen zu einem Sessel, von wo er das ihn so faszinierende Gesicht mit Muße betrachten konnte. »Zieht man jetzt schon Kinder ein?« fragte er, während er die Beine übereinanderschlug. »Haben die niemanden mehr sonst, der für sie kämpft?«
    »Ich bin achtzehn«, sagte der Junge. »Ich war in einem Heim, und die kommen sowieso sofort dran.« »Wie heißt du?«
    »Rainer Moerling-Hartheim«, erwiderte der Junge. Er sprach den Namen mit rollenden Rs.
    »Ein prachtvoller Name«, versicherte der Priester ernst. »Ja, nicht wahr? Ich habe ihn mir nicht ausgesucht. Im Heim haben sie mich oft geneckt wegen des Namens.«
    »Du bist eine Waise?«
    »Die Schwestern nannten mich ein Kind der Liebe.« Der Erzbischof unterdrückte ein Lächeln. Jetzt, da er seine Furcht abgestreift hatte, zeigte der Junge eine eindrucksvolle Haltung: Gelassenheit und Würde zugleich. Was aber mochte ihn vorhin so in Schrecken versetzt haben? Daß er in der Basilika eingeschlossen worden war? Oder daß man ihn dort fand? »Weshalb hast du dich so gefürchtet, Rainer?« Der Junge hob das Weinglas zum Mund, trank einen Schluck, dann einen zweiten. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck des
    Wohlbehagens. »Gut, er ist süß.« Er machte es sich auf seinem

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