Die Dornenvögel
Sitz bequemer. »Ich wollte unbedingt die Peterskirche sehen, weil uns die Schwestern immer davon erzählt haben. Auch Bilder haben sie uns gezeigt. Und so war ich froh, als wir nach Rom verlegt wurden. Heute morgen kamen wir hier an. Sobald ich konnte, bin ich dann nach Sankt Peter.« Er krauste die Stirn. »Aber es war ganz anders, als ich’s erwartet hatte. Ich meinte, ich würde mich unserem Herrgott näher fühlen, weil dies doch so richtig seine Kirche ist. Aber sie war bloß riesengroß und kalt. Ihn konnte ich überhaupt nicht fühlen.« Der Erzbischof lächelte. »Ich weiß, was du meinst. Aber Sankt Peter ist auch nicht wirklich eine Kirche. Nicht in dem Sinn, wie das die meisten Kirchen sind. Sankt Peter ist die Kirche. Ich erinnere mich sehr genau, daß ich eine lange Zeit brauchte, um mich daran zu gewöhnen.«
Der Junge nickte nur kurz. Offenbar drängte es ihn, dem Priester etwas anzuvertrauen. Als er fortfuhr, wurde dem Erzbischof deutlicher als zuvor bewußt, daß er mit bayerischer Dialekteinfärbung sprach.
»Ich wollte beten und den Herrgott um seine Hilfe bitten.« »Betrifft es das, wovor du dich fürchtest?«
»Ja. Und ich dachte, es ist vielleicht gut, wenn ich das in der Peterskirche tu’.«
»Wovor fürchtest du dich denn?«
»Vielleicht muß unser Regiment doch noch nach Rußland.« »Ich verstehe. Kein Wunder, daß du Angst hast. Aber was Rußland betrifft, brauchst du dir doch wirklich keine Sorgen zu machen. Du bist in Rom, also ganz am anderen End«.«
»Heute morgen habe ich gehört, wie unser Kommandeur sagte, wir würden vielleicht doch noch nach Rußland kommen. An der Ostfront steht es nicht sehr gut.«
»Du müßtest eigentlich noch auf der Schule sein«, sagte der Erzbischof abrupt. »Das wäre ich jetzt sowieso nicht mehr.«
Der Junge lächelte. »Ich bin achtzehn, würde jetzt also arbeiten.« Er seufzte. »Ich würde gern weiter zur Schule gehen.«
Der Erzbischof begann zu lachen. Dann erhob er sich und füllte die Gläser nach. »Achte nicht weiter auf mich, Rainer. Sollte ich dir sonderbar vorkommen - nun, mir geht gerade alles Mögliche durch den Kopf. Dies ist sozusagen meine Stunde für krause Gedanken. Ich bin kein guter Gastgeber, nicht wahr?« »Sie sind schon in Ordnung«, sagte der Junge.
»Und jetzt«, sagte der Erzbischof, während er wieder Platz nahm, »umreiße einmal kurz, wie du dich selber siehst und welche Ziele du hast, Rainer Moerling-Hartheim.«
Auf dem jungen Gesicht erschien ein eigentümlicher Ausdruck von Stolz. »Ich bin Deutscher und ich bin Katholik. Ich möchte, daß Deutschland ein Land wird, in dem es keine Verfolgung gibt, ob nun wegen der Rasse oder der Religion. Und wenn ich am Leben bleibe, dann will ich mich später mit ganzer Kraft dafür einsetzen.« »Ich werde für dich beten - daß du am Leben bleibst und daß du Erfolg hast.«
»Würden Sie das wirklich tun?« fragte der Junge scheu. »Ich meine, ganz persönlich für mich beten, mit meinem Namen?« »Natürlich. Durch dich habe ich sogar etwas gelernt. Daß mir in meinem - soll ich sagen: Gewerbe? - nur eine Waffe zur Verfügung steht, das Gebet. Eine andere Funktion habe ich nicht.« »Wer sind Sie?« fragte Rainer, den der Wein schläfrig zu machen schien. Er blinzelte.
»Ich bin Erzbischof Ralph de Bricassart.« »Oh! Ich dachte, Sie seien ein gewöhnlicher Priester!« »Ich bin ein gewöhnlicher Priester. Nichts weiter.« »Ich möchte Ihnen einen Handel vorschlagen«, sagte der Junge, und seine Augen funkelten plötzlich. »Sie beten für mich, Herr Erzbischof, und wenn ich am Leben bleibe und auch mein Ziel erreiche, dann komme ich wieder nach Rom, damit Sie sehen können, was
Ihre Gebete bewirkt haben.«
Die blauen Augen lächelten zärtlich. »Gut, abgemacht. Und wenn du kommst, werde ich dir sagen, was nach meiner Überzeugung mit meinen Gebeten geschehen ist.« Er stand auf. »Bleib hier, kleiner Politiker. Ich werde sehen, daß ich für dich etwas zu essen finde.« Sie sprachen miteinander, bis über den Kuppeln und Campanilen der Morgen heraufzudämmern begann. Dann führte der Erzbischof seinen Gast durch die öffentlichen Räume des Palais, beobachtete mit Vergnügen, welch tiefen Eindruck alles auf diesen Jungen in Uniform machte, und entließ ihn schließlich in die kühle, frische Morgenluft.
Noch konnte er es nicht wissen, dieser Junge mit dem so prachtvollen Namen: Daß ihn das Schicksal in der Tat nach Rußland führen würde, wobei ihn eine
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