Die Dornenvögel
eigenes Leben aufbaue. Aber Daddy sagt nein, ich würde hier zu Hause gebraucht, zum Nutzen für die ganze Familie. Und weil ich noch nicht einundzwanzig bin, müßte ich eigentlich tun, was er sagt.« Meggie nickte ernst und versuchte angestrengt, die für sie recht verschlungenen Fäden von Franks Erklärung zu entwirren. »Nun, Meggie, ich habe lange und eingehend über alles nachgedacht. Ich gehe fort, und daran ist nichts zu ändern. Ich weiß, daß ich dir und Mum fehlen werde, aber Bob ist ja schon ziemlich groß, und Daddy und die Jungens werden mich überhaupt nicht vermissen. Das einzige, was Daddy interessiert, ist das Geld, das ich nach Hause bringe.«
»Kannst du uns denn nicht mehr leiden, Frank?« Plötzlich streckten sich seine Hände nach ihr. Er nahm sie in die Arme, riß sie fast an sich. »Oh, Meggie! Ich liebe dich und Mum mehr als all die anderen zusammen! Mein Gott, wenn du nur älter wärst, damit ich richtig mit dir reden könnte! Aber vielleicht ist es besser, daß du noch klein bist, ja, vielleicht ist es besser so ... « Abrupt ließ er sie los und versuchte, seine Selbstbeherrschung wiederzugewinnen. Schließlich blickte er zu Meggie. »Wenn du älter bist, wirst du’s besser verstehen.« »Bitte, Frank, geh nicht fort!« flehte sie.
Er lachte. Es klang wie ein Schluchzen. »Oh, Meggie! Hast du denn gar nichts verstanden? Na, ist auch nicht so wichtig. Hauptsache, du erzählst keinem, daß wir heute abend miteinander gesprochen haben, hörst du? Ich möchte nicht, daß irgendwer denkt, du hättest sozusagen mit drin gesteckt.«
»Aber ich habe dir doch zugehört, Frank«, versicherte sie. »Ich habe alles gehört. Und ich werde keinem was sagen, das verspreche ich dir. Aber ich wünschte, du - du müßtest nicht fortgehen!« Sie war zu jung, um ihm erklären zu können, was sie ohnehin mehr fühlte, als daß sie es etwa gewußt hätte: Wen hatte sie denn noch, wenn Frank fortging? Er war der einzige, der ihr offen seine Zuneigung zeigte; der einzige, der sie umarmte und an sich drückte. Als sie noch kleiner gewesen war, hatte Daddy sie oft zu sich hochgehoben, doch seit sie zur
Schule ging, durfte sie nicht mehr auf seinen Knien sitzen und nicht mehr die Arme um seinen Hals schlingen. »Du bist jetzt ein großes Mädchen, Meggie«, sagte er. Und Mum war immer so müde und so beschäftigt zugleich, so völlig durch die Jungen und das Haus in Anspruch genommen. Frank stand Meggies Herzen am nächsten: An ihrem begrenzten Firmament strahlte er als der Stern. Er war der einzige, dem es Freude zu machen schien, mit ihr zusammen zu sitzen und mit ihr zu sprechen. Und er verstand es, Dinge auf eine Weise zu erklären, die für sie verständlich blieb. Seit dem Tag, an dem Agnes ihr Haar verloren hatte, war er immer für sie dagewesen, und nichts, kein einziger Kummer, hatte sie seither bis ins Tiefste treffen können, nicht Schwester Agatha mit ihrem Stock, nicht die Geschichte mit den Läusen - weil ja immer Frank da war, um sie zu trösten.
Jetzt stand sie auf, und sie brachte sogar ein Lächeln zustande. »Wenn du fortgehen mußt, Frank, dann ist das in Ordnung.« »Meggie, du solltest im Bett liegen. Sieh zu, daß du wieder dort bist, bevor Mum nachsehen kommt. Mach schnell!« Die Mahnung ließ sie alles andere vergessen. Sie bückte sich und langte nach dem nachschleppenden hinteren Saum ihres Nachthemds. Dieses Ende zog sie zwischen den Beinen durch und hielt es dann vorn wie einen verkehrt aufgesetzten Schwanz. Und jetzt rannte sie los: Ihre bloßen Füße flitzten nur so über die Holzspäne und Holzsplitter.
Am nächsten Morgen war Frank verschwunden. Als Fee kam, um Meggie zu wecken, wirkte sie todernst und wie verkrampft. Meggie sprang sofort aus dem Bett, und als sie sich anzog, bat sie ihre Mutter nicht einmal, ihr bei den vielen Knöpfen zu helfen. In der Küche saßen die Jungen bedrückt am Tisch, und Paddys Stuhl war leer. Der von Frank auch. Meggie ließ sich auf ihren Sitz gleiten, und dann hockte sie dort, vor Angst fast hörbar mit den Zähnen klappernd. Nach dem Frühstück scheuchte Fee mit verdrossenem Gesicht alle hinaus, und hinter dem Schuppen flüsterte Bob seiner Schwester dann das Geheimnis zu: »Frank ist fort!« »Vielleicht ist er ja bloß nach Wahine«, versuchte Meggie abzuschwächen.
»Ach, Quatsch! Der ist zur Army. Wäre ich doch nur groß genug, um mitzugehen! Hat der ein Schwein!« »Ich wünschte, er wäre noch zu Hause.«
Bob hob die Schultern.
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