Die Dornenvögel
Reinheit des Geistes und der Seele. Was könnte der Tod für ihn anderes bedeuten, als daß er eingeht in das ewige Leben? Wahrlich, für uns übrige ist der Übergang nicht so leicht.« Von seinem Hotel aus schickte Rainer ein Telegramm nach London, und dem knappen Text war nichts von seiner Verärgerung und Enttäuschung anzumerken. Er lautete: MUSS NACH BONN ZURÜCK STOP BIN AM WOCHENENDE IN LONDON STOP WARUM HAST DU MIR NICHTS GESAGT STOP MIT ALLER LIEBE RAINER.
In Bonn wartete Post auf ihn: ein Brief von Justine und ein zweites, recht gewichtiges Schreiben, das von Kardinal de Bricassarts römischen Anwälten stammte. Dieses öffnete er zuerst. Laut letztwilligem Wunsch des Kardinals, so hieß es dort in typischer Juristensprache, sollte ihm die entscheidende
Verantwortung für Michar Limited übertragen werden. Und auch für Drogheda. Angetan war er davon keineswegs, aber er begriff, was der Kardinal damit hatte zum Ausdruck bringen wollen: Daß er ihn, Rainer Moerling-Hartheim, den er seit jenem Zusammentreffen in der Basilika von Sankt Peter in sein Gebet eingeschlossen hatte, sorgfältig wog, ohne ihn, am Ende, für zu leicht zu befinden. In seine Hände hatte er, soweit es das Materielle betraf, das Wohlergehen von Meggie O’Neill und all den anderen von Drogheda gelegt. So jedenfalls interpretierte Rainer es für sich. Der juristische Text selbst war natürlich völlig unpersönlich. Er griff nach dem Brief von Justine. Wie es ihrer Art entsprach, sprang sie gleichsam mit beiden Beinen mitten hinein. Sogar die Anrede sparte sie sich.
»Vielen Dank für Dein Telegramm. Du kannst Dir bestimmt nicht vorstellen, wie froh ich bin, daß wir in den letzten Wochen nicht miteinander in Verbindung waren. Es wäre für mich entsetzlich gewesen, Dich in meiner Nähe zu haben. Immer, wenn ich an Dich dachte, ging es mir durch den Kopf: Gott sei Dank, daß er nichts weiß. Du wirst es vielleicht nicht verstehen, aber ich will Dich nicht ~bei mir haben. An Trauer ist nichts, aber auch gar nichts Schönes, Rain, und wenn ich Dich bei mir wüßte, so wäre dadurch nichts für mich gebessert. Ja, man kann sogar sagen, daß mir dies vor Augen geführt hat, wie wenig ich Dich liebe. Liebte ich Dich wirklich, so würde ich mich Dir doch wohl gerade jetzt zuwenden, ganz instinktiv. Statt dessen zeigt sich, daß ich mich von Dir abwende. Und deshalb möchte ich, daß wir unter alles einen Schlußstrich ziehen, Rain. Ich kann Dir nichts geben, und ich will nichts von Dir. Was ich jetzt durchgemacht habe, hat mir gezeigt, was es bedeutet, einen Menschen lange - sechsundzwanzig Jahre lang
- zu kennen, ihm nahe zu sein. Ich könnte es nie wieder durchmachen. Und Du selbst, nicht wahr, hast ja gesagt: Ehe oder nichts. Nun, ich entscheide mich für nichts.
Von meiner Mutter habe ich gehört, daß der alte Kardinal starb, kaum daß ich ein paar Stunden von Drogheda fort war. Merkwürdig. Ich meine, Mum schien über seinen Tod ziemlich verstört zu sein. Nicht, daß sie da irgendwas gesagt hätte, aber ich kenne sie ja. Möchte nur wissen, warum sie und Dane so sehr an ihm hingen. Mir war er, wie soll ich sagen, immer irgendwie zu glatt und zu gefühlig. Und ich bin auch nicht bereit, meine Meinung zu ändern, bloß weil er jetzt tot ist.
Und das ist alles, was ich Dir zu sagen habe, Rain. Das ist alles, was es zu sagen gibt. Das sage ich in allem Ernst. Ich habe mich bei Dir für nichts entschieden. Paß gut auf Dich auf.«
Ihre Unterschrift lautete wie stets: Justine - ohne irgend etwas sonst. Und den Brief hatte sie mit einem der noch neuartigen Filzstifte geschrieben, für sie offenbar das richtige Schreibgerät, um sich gleichsam in ehernen Lettern zu verewigen.
Er hob den Brief nicht auf, und er verbrannte ihn auch nicht. Er tat, was er mit aller Post tat, die keine Antwort erforderte. Das Papier kam in den Papierkorb, nachdem es zuvor durch eine Art Brief-Reißwolf gewandert war. Danes Tod, so schien es, hatte Justines emotionellem Erwachen ein Ende gesetzt. Er fühlte sich tief unglücklich, und die Verbitterung wollte nicht weichen. Es war einfach nicht fair. Er hatte so lange gewartet.
Am Wochenende flog er dennoch nach London, aber nicht um sie zu sehen, obschon er sie dann sah. Auf der Bühne. Als das geliebte Weib des Mohren, Desdemona. Und sie war gut, unglaublich gut. Vorläufig gab es nichts, was er für sie hätte tun können, das die Bühne nicht besser konnte. Vorläufig. Gut, dachte er, ja, gut, werde es
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