Die Dornenvögel
beschwichtigende Geste, die sie jedoch nicht wahrzunehmen schien. Mit veränderter Stimme sprach sie weiter, mehr zu sich selbst als zu ihm.
»Drogheda gleicht inzwischen sehr einem Altersheim«, sagte sie. »Wir brauchen junges Blut, und Justine ist das einzige junge Blut, das geblieben ist.«
Abrupt beugte er sich vor. In seinen Augen war ein Funkeln. »Sie sprechen von ihr, als gehörte sie zum lebenden Inventar von Drogheda, Mrs. O’Neill«, sagte er schroff. »Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß Sie sich da irren!«
Sie musterte ihn in plötzlichem Zorn. »Woher wollen Sie wissen, wo Justine hingehört und wo nicht? Sie haben gesagt, daß Sie sie das letzte Mal gesehen haben, bevor Dane starb, und das ist zwei Jahre her!«
»Ja, zwei Jahre ist es inzwischen her.« Seine Stimme wurde
weicher. »Sie tragen es sehr gut, Mrs. O’Neill.«
»Finden Sie?« fragte sie und versuchte ein Lächeln. Ihr Blick war unverwandt auf sein Gesicht gerichtet. »Ja, Sie tragen es sehr gut«, wiederholte er.
Sie stutzte - und begriff. »Woher wissen Sie über Dane und Ralph?« fragte sie mit unsicherer Stimme.
»Ich habe es vermutet. Keine Sorge. Mrs. O’Neill, niemand sonst ahnte etwas. Ich kannte den Kardinal lange, bevor ich Dane zum ersten Mal sah, und so kam mir der Gedanke. In Rom hat jeder geglaubt, der Kardinal sei Ihr Bruder, Danes Onkel. Als ich Justine kennenlernte, räumte sie bei mir alle Zweifel aus.« »Justine?« rief Meggie. »Um Gottes willen, doch nicht Justine!« Er beugte sich rasch vor, nahm ihre zitternde Hand. »Nein, nein, nein, Mrs. O’Neill! Justine hat nicht die leiseste Ahnung und wird hoffentlich auch nie etwas erfahren! Es war eine beiläufige Bemerkung von ihr, die mir sozusagen die Augen öffnete, während sie selbst die tiefere Bedeutung - die Zusammenhänge - nicht erkannte.«
»Sind Sie sicher?« »Ja, ich schwöre es Ihnen. «
»Warum, in Gottes Namen, kommt sie dann nicht heim? Warum kommt sie mich nicht besuchen? Warum scheut sie sich, mir vor die Augen zu treten?«
Plötzlich begriff er, wie sehr diese Frau darunter litt, daß ihre Tochter sie offenbar mied und daß sie einfach keine Erklärung dafür finden konnte.
»Das ist meine Schuld«, sagte er mit fester Stimme. »Ihre?« fragte Meggie verwirrt.
»Ja, denn meinetwegen flog sie nach London zurück, statt Dane nach Griechenland zu begleiten, wie sie es ursprünglich vorhatte. Und sie ist fest davon überzeugt, daß er noch leben würde, wenn sie mit ihm gereist wäre.«
»Aber das ist doch Unsinn!« sagte Meggie.
»Gewiß. Aber auch wenn uns das klar ist, ihr ist es nicht klar. Und es wird an Ihnen sein, Justine zur Einsicht zu bringen.« »An mir? Mr. Hartheim, ich fürchte, das sehen Sie falsch, sehr falsch sogar. Justine hat in ihrem ganzen Leben noch nicht auf mich gehört, und das ist mit den Jahren - und gerade jetzt - nur noch schlimmer geworden. Offenbar kann sie ja nicht einmal mehr mein Gesicht ertragen.« Sie schwieg einen Augenblick. »Es ist bei mir genauso gekommen, wie bei meiner Mutter«, fuhr sie mit nüchterner, sachlicher Stimme fort. »Drogheda ist mein Leben ... das Haus, die Bücher ... Hier werde ich gebraucht, hier hat mein Leben noch einen Sinn. Die Menschen hier sind auf mich angewiesen. Meine Kinder hingegen haben mich nie wirklich gebraucht. Nein, nie. Und Justine, gerade Justine ... «
»Augenblick, Mrs. O’Neill«, unterbrach er sie. »Ich glaube, Sie verkennen das völlig. Sie meinen, die Tatsache, daß Justine nicht einmal zu Besuch kommt, sei ein Beweis für ihre Gleichgültigkeit Ihnen gegenüber. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade weil sie Sie liebt, scheut sie vor einem Besuch zurück. Das Gefühl der Schuld bedrückt sie tief, und diese Schuld empfindet sie nicht zuletzt Ihnen gegenüber.« »Aber ... « begann sie.
»Ja«, sagte er, »und Sie müssen es ihr klarmachen. Deswegen bin ich hergekommen. Weil Justine Ihre Hilfe braucht, Sie jedoch nicht darum bitten kann. Sie müssen sie davon überzeugen, daß sie wieder ein normales Leben führen muß - nicht ein Leben auf Drogheda, sondern ihr eigenes Leben, das mit Drogheda nichts zu tun hat.« Er lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander, zündete sich eine neue Zigarette an. »Justine trägt gleichsam ein härenes Hemd, doch aus völlig falschen Gründen. Wenn es irgend jemanden gibt, der ihr da die Augen öffnen kann, so sind Sie das. Allerdings muß ich Ihnen auch sagen - wenn Sie das tun, so wird sie wohl nie
Weitere Kostenlose Bücher