Die Dornenvögel
so, auch im Haus hielt man sich aus guten
Gründen daran. Arbeiten, die man nicht am Vormittag hatte erledigen können, versuchte man nach fünf zu Ende zu bringen, und die Abendmahlzeit aß man nach Sonnenuntergang an einem Tisch draußen auf der Veranda. Und auch alle Betten hatte man inzwischen nach draußen gestellt, denn jetzt wich die Hitze die ganze Nacht über nicht mehr. Schon seit Wochen schien die Quecksilbersäule nicht mehr unter die Markierung von vierzig Grad gefallen zu sein, nicht bei Tage und auch nicht bei Nacht. Fleisch aß man kaum noch, weil die nicht verzehrten Reste geschlachteter Tiere im Handumdrehen verdarben. Am ehesten ging noch ein kleines Schaf, gebraten, von dem bei so vielen Essern kaum etwas übrigblieb. Doch schließlich verlangte der Gaumen nach etwas anderem als immer nur Schaf, Schaf in jedweder Art und Form: als Hammelkeule, als Hammel-Stew, als Schäferpastete aus kleingehacktem Hammelfleisch, als Hammel mit Curry und als Hammel mit Pickles und als Hammelrostbraten und - schließlich und endlich - auch als Hammel-Kasserolle. Anfang Februar änderte sich für Meggie und Stuart das Leben sehr abrupt. Sie wurden nach Gillanbone geschickt, in die Klosterschule. Eine Schule, die von Drogheda aus schneller zu erreichen gewesen wäre, gab es nicht, und natürlich lag die Stadt viel zu weit von der Viehstation entfernt, als daß man an eine tägliche Hin- und Rückfahrt denken konnte. Also mußten die beiden Kinder in Gillanbone wohnen, genauer: im Kloster vom Heiligen Kreuz. Mary Carson hatte sich mit erstaunlicher Großzügigkeit erboten, für den Unterricht sowie für Kost und Logis dort aufzukommen. Eine andere Möglichkeit wäre noch Fernunterricht gewesen, sogenannte Korrespondenzkurse, die bei der Blackfriars School in Sydney angemeldet werden konnten, doch da hätte Fee die Hausaufgaben der Kinder sorgfältig kontrollieren müssen, und dafür fehlte es ihr - schon des kleinen Hals wegen - ganz einfach an der Zeit. Im übrigen war man längst stillschweigend übereingekommen, Jack und
Hughie vom Schulunterricht in jedweder Form auszunehmen: Man brauchte sie auf Drogheda, und Drogheda war zweifellos das, was sie ihrerseits wollten.
Das Leben im Kloster vom Heiligen Kreuz erschien Meggie und Stuart so eigenartig und so überaus friedvoll: nach ihren Erlebnissen auf Drogheda, aber mehr noch nach ihren Erfahrungen im Herz-Jesu-Kloster in Wahine. Pater Ralph hatte die Nonnen sehr taktvoll wissen lassen, daß diese beiden Kinder seine Schützlinge seien und es sich zudem bei ihrer Tante um die reichste Frau in ganz Neusüdwales handele. Und so geschah es, daß Meggies Scheu sich von einem Laster in eine Tugend verwandelt sah und Stuarts sonderbares Entrücktsein, seine völlige Isolierung von anderen und sein stundenlanges Starren in unauslotbare Fernen ihm das Attribut »heiligmäßig« eintrug.
Ja, ruhig und friedvoll war es im Kloster wirklich, denn außer Meggie und Stuart gab es dort nur wenige Logierschüler. Jene Leute, die sich für ihre Sprößlinge überhaupt eine Boarding School leisten konnten, zogen fast ausnahmslos Sydney vor. Im Kloster roch es nach Blumen und nach Bohnerwachs, und die dunklen, hohen Korridore schienen wie gebadet in Stille und in eine schier greifbare Heiligkeit. Stimmen erklangen nur gedämpft, alles Leben spielte sich gleichsam hinter einem dünnen schwarzen Schleier ab. Hier wurden die Kinder von niemandem geschlagen, von niemandem angeschrien. Und dann war da noch immer Pater Ralph. Er kam sie oft besuchen, und sie waren so oft bei ihm im Pfarrhaus und blieben so regelmäßig auch über Nacht, daß er beschloß, das Zimmer, in dem Meggie schlief, in zartem Apfelgrün streichen zu lassen und für die Fenster neue Gardinen und für das Bett eine neue Steppdecke zu kaufen. Stuart hingegen schlief weiterhin in dem Raum, dessen schlichtes Braun und Cremegelb zwei Renovierungen gleichsam unbeschadet überstanden hatten. Die Frage, ob
Stuart denn auch glücklich und zufrieden sei, fiel Pater Ralph ganz einfach nicht ein. Stuart war so etwas wie ein Nachgedanke - er mußte anstandshalber mit eingeladen werden.
Weshalb er Meggie so gern hatte, wußte Pater Ralph nicht, und er dachte auch nicht viel darüber nach. Angefangen hatte es zweifellos mit jenem Mitleid, das er empfand, als er sie auf dem staubigen Bahnhofsplatz hinter ihren Brüdern sah, so abgesondert, und das, wie er instinktiv ahnte, weil sie ein Mädchen war. Warum auch Frank sich
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