Die Drachen von Montesecco
wohl helfen«, hatte ich gesagt. Mein Fehler war, daß ich den Jungen ernst nahm. Ich dachte, er habe Probleme und könne nicht darüber reden. Ich hätte besser den schwarzen Mann ernst genommen. Aber wer konnte schon ahnen, wie sich das alles entwickeln sollte?
Inzwischen machte der schwarze Mann selbst mir angst. Nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, dachte ich an die Drohung auf dem Zettel: »Zwei Millionen, sonst bringe ich den Jungen um!« Das sagt sich leicht, das schreibt sich leicht auf ein Stück Papier, doch was ist, wenn es ernst wird? Wer ist denn fähig, die Hand um einen Messergriff zu krallen und zuzustechen, wenn einem ein Mensch aus Fleisch und Blut gegenübersteht? Noch dazu, wenn es ein verängstigter kleiner Junge ist. Oder ihm die Hände um den Hals zu legen und zuzudrücken, bis er aufhört, um sich zu schlagen, bis seine Augen aus den Höhlen treten und …
Schon beim Gedanken daran wurde mir übel. Ich stand auf, trank einen Schluck Wasser und sah hinauf zum Mond, der bleich wie ein totes und schon angenagtes Kindergesicht im Himmel hing. Der Westwind trieb milchige Wolkenfetzen an ihm vorbei, und ich sagte mir, daß man ein Monster sein müsse, um eine solche Tat kaltblütig zu begehen.
Vorstellbar erschien mir höchstens ein Mord im Affekt, in maßloser Wut und unbeherrschbarem Haß. Oder wenn jemand in einer Zwangslage steckte, die ihm keine Wahl ließ. Wenn er sich das Gehirn vergeblich zermartert hatte, um eine andere Lösung zu finden, wenn er alles, aber auch wirklich alles versucht hatte, um nicht morden zu müssen, wenn er mit dem Rücken zur Wand stand, so dicht, daß kein Haar mehr dazwischenpaßte, und wenn er nur noch zusehen konnte, wie sie ihn einkreisten und auf ihn zurückten, um ihn zu zerfleischen.
Dann vielleicht, dachte ich. Ich sah zu, wie Wolkenberge am Nachthimmel aufmarschierten und ihn unerbittlich besetzten. Das Mondgesicht verschwand im Grau. Ich legte mich wieder hin und schlief dann wohl ein, denn ich träumte, daß der schwarze Mann zu mir sprach. Ich kann mich nicht erinnern, was er sagte, doch am Morgen wußte ich eins genau: Wenn das Kind starb, würde der schwarze Mann das nicht überleben. Noch im selben Moment würde auch er verrecken. Das war ein kleiner Trost. Immerhin.
Keiner wußte genau, wann Minh verschwunden war. Am Sonntagmorgen hatte ihn Catia Vannoni zu ihrem Vater Matteo geschickt, doch dort war er nie eingetroffen, obwohl der Weg nicht weit war. Gerade mal dreißig Meter, die Stufen hinab, am alten Waschhaus vorbei und quer über die Piazza.
Vielleicht war der Junge zum westlichen Dorfeingang abgebogen, um dort seinen Drachen steigen zu lassen. Zumindest schwor Costanza, das älteste der drei Marcantoni-Geschwister, am späten Vormittag einen hellgrünen Kometdrachen über Curzios Feld tanzen gesehen zu haben. Auch wenn jeder wußte, daß Costanza Marcantoni nicht nur gestern und heute, sondern Jahre und Jahrzehnte durcheinanderbrachte, schien sie diesmal recht zu haben, denn Minh war tatsächlich mit einem grünen Drachen aus dem Haus gegangen, wie seine Mutter später bestätigte.
Daß er nicht früher vermißt wurde, war auf unglückliche Umstände und eine Kette von Mißverständnissen zurückzuführen. Catia war von Milena Angiolini gedrängt worden, sie auf einen Kurzurlaub nach Apulien zu begleiten. Ohne den Jungen, denn erstens müsse der in die Schule, und zweitens solle Catia auch mal an sich selbst denken. Sie müsse mal raus aus dem Kaff, aus den Alltagsverpflichtungen. Schließlich habe jeder das Recht auf ein eigenes Leben, und sie ohnehin, sie sei ja gerade mal fünfundzwanzig Jahre alt, eine junge hübsche Frau, der anscheinend gar nicht klar sei, daß es da draußen in der Welt jede Menge Männer gebe, die sich die Finger nach ihr ablecken würden.
Catia hatte nur die Augen verdreht, nach einigem Hin und Her aber zugestimmt. Sie wollte Minh für einige Tage bei Angelo und Elena Sgreccia unterbringen. Bei ihnen war Catia aufgewachsen, als ihr leiblicher Vater im Gefängnis gesessen hatte, fünfzehn Jahre lang. Auch wenn Catia nun eine selbständige Frau war, in deren Leben man sich nicht einmischen wollte, hatten die Sgreccias durchaus Geschmack daran gefunden, sich wenigstens ein bißchen als Minhs Großeltern zu fühlen. So hatten sie sofort zugesagt, Minh ein paar Tage zu sich zu nehmen, teilten später aber mit, daß das zumindest für die ersten zwei Tage doch nicht möglich wäre, da sie am Montagmorgen einen
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