Die Drachen von Montesecco
»ich hätte mich nie von dir überreden lassen dürfen! Ich habe doch gesehen, wie das hier läuft, seit Benito tot ist. Jeder denkt nur an sich, ans Geld, wie er mehr davon kriegt und wofür er es ausgeben will. Ich nehme mich nicht aus. Ich wollte mich auch mal amüsieren. Und habe deswegen meinen Sohn allein zurükkgelassen. In Montesecco. In einem Kaff von fünfundzwanzig Leuten, die so sehr mit ihrem eigenen Kram beschäftigt sind, daß sie nicht mal merken, wenn ein Junge entführt wird und achtundvierzig Stunden lang nicht mehr auftaucht!«
»Catia«, sagte Vannoni, »das ist nicht gerecht.«
»Mein Fehler, sage ich doch«, zischte Catia. »Ich hätte mich nie auf euch verlassen dürfen.«
»Das ist doch alles Spekulation«, sagte Franco in einem letzten Versuch, zu retten, was nicht mehr zu retten war. »Es gibt ja nicht einmal eine Lösegeldforderung, oder?«
Nacheinander stiegen sie die Stufen zu Catias Haus hoch. In ihrem Briefkasten lagen eine Postkarte aus Namibia, auf der ein gähnendes Löwenbaby abgebildet war, und die Stromrechnung der ENEL.
»Na also«, sagte Franco Marcantoni. Doch auch wenn niemand dagegenhielt, glaubte keiner mehr daran, daß sich der Junge freiwillig irgendwo versteckte. Nicht einmal Franco selbst.
Sie suchten dennoch weiter, bis die Nacht schwarz wurde. Sie stellten Rumpelkammern auf den Kopf, durchkletterten Räucherkamine, klopften die Wände der verfallenden Häuser ab und ließen sich sogar bei den Deutschen,die das Haus Paolos gekauft hatten, jede Schranktür öffnen. Nichts. Keine Spur von dem Jungen.
Daß die Lösegeldforderung am nächsten Morgen auftauchte, überraschte niemanden. Doch die Umstände, unter denen sie aufgefunden wurde, gaben den Bewohnern Monteseccos zu denken. Und die Form, in der sie abgefaßt war, machte sie sprachlos.
»Laßt sehen!« sagte Matteo Vannoni. Er war mit dem Morgengrauen aufgestanden, und da alles besser schien, als herumzusitzen, war er durch den Wald Richtung Magnoni gestapft. Als er zurückkam, saß fast das ganze Dorf in Catias Wohnzimmer. Der Zettel lag auf dem Tisch, den er selbst abgeschliffen und neu lackiert hatte. Niemand machte Anstalten, ihm den Zettel zuzuschieben, also nahm er ihn sich.
Zwei Millionen, sonst bringe ich den Jungen um.
Bis übermorgen 12 Uhr, sonst bringe ich ihn um.
Keine Polizei und keine Tricks, sonst bringe ich ihn um.
Vannoni schob den Zettel in die Mitte des Tischs zurück. Es klang, als habe der Entführer Spaß daran gefunden, die Morddrohung gleich dreimal aufzuschreiben. Als dürste es ihn nach Blut und als warte er nur darauf, endlich morden zu können. Als hoffe er fast, daß seine Bedingungen nicht erfüllt würden. Seltsam verstärkt wurde diese Wirkung durch die Nachlässigkeit, mit der die Worte in Druckbuchstaben hingekritzelt waren. Als wäre es nicht mehr als ein Einkaufszettel. Als wäre es gar nicht der Mühe wert, dafür langwierig Buchstaben aus Zeitungsüberschriften auszuschneiden.
Die Lucarelli-Schwestern und Ivan Garzone redeten auf Catia ein, die Polizei einzuschalten. Wer sonst hatte die Mittel, solch einen eiskalten Verbrecher dingfest zu machen? Man mußte Spuren sichern, die Handschrift aufdem Zettel analysieren, sich über Verhandlungstaktiken beraten lassen und …
»Nein!« sagte Catia Vannoni.
»Natürlich ohne Aufsehen zu erregen«, sagte Ivan. »Die Spuren werden sowieso irgendwo in einem Labor untersucht, und hier bräuchte man nur ein paar Spezialisten, die dein Telefon überwachen und …«
»Auf keinen Fall!« sagte Catia entschieden.
»Aber der Kerl ist gefährlich«, sagte Elena Sgreccia. »Und der Zettel lag bei uns im Briefkasten. Nicht bei dir, Catia, bei uns! Einfach so, ohne Umschlag, ohne Briefmarke. Den hat nicht der Postbote eingeworfen, das hat der Entführer selbst getan. Er war an unserer Haustür, und wir hatten nicht einmal abgeschlossen.«
»Ich war die ganze Nacht wach, bin von der Tür zum Telefon gelaufen und vom Telefon zur Tür. Er wird sich bei mir nicht getraut haben.« Catias Stimme klang ruhig, aber sie selbst sah fürchterlich aus. Leichenblaß, abgezehrt. Matteo Vannoni ging zu ihr und legte den Arm um sie. Sie schüttelte ihn ab.
»Ja, aber warum gerade bei uns?« fragte Elena Sgreccia. »Warum hat er den Zettel nicht bei den Lucarellis oder Curzios eingeworfen? Oder von mir aus an die Kirchentür genagelt?«
»Vielleicht, weil vor allem du dafür verantwortlich bist, daß niemand Minh vermißt hat«, sagte Catia
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