Die Drachen von Montesecco
zur Piazza wurde von den Nebelschwaden aufgesogen. Dennoch sah Curzio so klar wie seit vierzig Jahren nicht mehr.
Sabrina Lucarelli nickte ungeduldig. »Hör mal, Gianmaria, ich komme gerade von der Uni, habe einen harten Tag hinter mir und würde jetzt wirklich gern …«
»Klar, geh nur!« sagte Curzio. Er sah ihr nach, wie sie die Piazza überquerte. Ihre schlanke Silhouette verschwamm im Grau, nur ihre Absätze klackten noch auf dem Asphalt.Dann öffnete sich die Tür bei den Lucarellis, ein Lichtschein leckte über den feuchten Boden bis zu Donatos Renault und schnurrte wieder zurück, als sich die Tür hinter Sabrina schloß. Curzio zog den Kragen seines Mantels enger.
»Davon hätte ich doch wissen müssen.« Curzio sagte sich den Satz noch einmal vor. Diese sechs Wörter, die sich so harmlos anhörten und doch so schwer wogen wie Blei. Ja, Blei war passend. Denn wenn man obduziert und eine Bleikugel in Benitos Brustkorb gefunden hätte, hätte das nicht aussagekräftiger sein können. Curzio sog die feuchte Luft ein. Hatte er nicht gleich gewußt, daß Benito ermordet worden war? Er zwang sich, nicht voreilig zu triumphieren. Vor Gericht würde sein Satz keinesfalls ausreichen, und wahrscheinlich würde nicht einmal die Polizei darauf anspringen, so wie Curzio abgefertigt worden war, als er dort seinen Verdacht geäußert hatte. Immerhin hatte er nun etwas in der Hand. Sechs Wörter, aus denen eine komplette Geschichte erwachsen würde, in der keine Frage unbeantwortet blieb. Eine Geschichte, in der die Identität des Mörders, sein Motiv und der Tathergang geklärt würden.
Davon hätte ich doch wissen müssen.
Curzio wäre der Satz sofort aufgefallen, wenn er dabeigewesen wäre, aber er hatte ja unbedingt das Ende der Weinlese in Barbara feiern müssen. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, den Verlauf des bewußten Tages Minute für Minute zu rekonstruieren, und Curzio war nahe daran gewesen aufzugeben. Keiner wollte sich für ihn Zeit nehmen, und wenn er sich nicht abweisen ließ oder immer wieder ankam, um seine Fragen zu stellen, dann nahm man ihn nicht ernst. Sie wollten nicht begreifen, daß es entscheidend sein konnte, ob Benitos Leiche um 17 Uhr 12 oder um 17 Uhr 14 aufgefunden worden war. Und wie viele Weingläser auf dem Tisch gestanden hatten. Und wer wann gesagt hatte: »Davon hätte ich doch wissen müssen.«
Lange genug hatte Curzio ergebnislos herumgestochert. Jetzt hatte er einfach Glück gehabt, daß Sabrina sich erinnerte, wie die Leute auf die Nachricht von Benitos Reichtum reagiert hatten. Wenn es denn stimmte. Curzio wußte nicht genau, was Sabrina studierte und was die jungen Leute an der Universität lernten, doch sollte man von einer Studentin nicht erwarten, daß sie sich sechs Wörter ein paar Tage lang merken konnte? Aber die Sache war zu wichtig, um sich darauf zu verlassen. Curzio steckte die Hände in die Manteltaschen und ging los.
Die Pinien am Hang oberhalb der Piazza schienen im Nebel zu schweben. Die davor geparkten Autos hatten ihre Farbe verloren. Dunkle Klötze, die ebensogut Felsbrocken sein konnten. Kein Mensch war mehr unterwegs. Vielleicht konnte Curzio in der Bar noch jemanden auftreiben, der Zeuge gewesen war. Doch statt nach links zur Piazzetta abzubiegen, zog ihn irgend etwas die Stufen hinab. Er ging bis zum Mäuerchen an der äußersten Gasse Monteseccos vor. Die vertrauten Umrisse der Hügel und die Lichter in den Tälern waren verschwunden, verschluckt von einem grauen Meer, in dem oben und unten nicht mehr zu unterscheiden waren. Von der Friedhofsbeleuchtung drang nur ein schwebender, unwirklich anmutender Schein durch, der aus dem Nebel selbst entsprungen zu sein schien. Da unten lag Benito. Der wartete auf keinen Morgen und auf keine Frühjahrssonne mehr. Curzio ging nach links, am Haus der Sgreccias vorbei. Die Persiane vor Benitos Fenster waren geschlossen, als gelte es, ein Verbrechen zu verbergen. Durch die Spalten zwischen den Lamellen sickerte schwarzer Tod heraus. Im Erdgeschoß brannte Licht. Fünfeinhalb Millionen Euro hatte Benito hinterlassen.
»Davon hätte ich doch wissen müssen«, hatte sein Sohn Angelo dazu gesagt, als wolle er einen Verdacht ausräumen, den gar keiner geäußert hatte. Als versuche er, ein mögliches Mordmotiv von Anfang an auszuschließen.Denn wer nichts vom Reichtum seines Vaters wußte, der würde ihn natürlich auch nicht umbringen, um an das Erbe zu gelangen. Aus welchem Grund hatte Angelo das von
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