Die Drachen von Montesecco
möglich, daß aus Montesecco etwas ganz Besonderes werden konnte. Nur Marisa Curzio zeigte auf das Dach der Bar, wo ein Stahlskelett an Ivans erste Versuchswindkraftanlage erinnerte. Falls die Höllenmaschine wieder in Gang gesetzt werde, gebe das eine gewaltige Bruchlandung. Ivan versprach, damit vors Dorf hinauszugehen und auch den Rotorenlärm deutlich zu reduzieren. Er habe ja jetzt ganz andere Möglichkeiten.
»Welche denn?« fragte eine Stimme von der Sebastianskapelle her. Dort stand plötzlich Angelo Sgreccia. Seit Lidia ihm das Testament übergeben hatte, war er von niemandem mehr gesehen worden. Allerdings hatte auch kaum einer an seine Tür geklopft, und einige hatten sogar, ohne es sich selbst so recht einzugestehen, einen weiten Bogen um sein Haus gemacht. Denn wie sollte man jemandem gegenübertreten, der von seinem eigenen Vater enterbt worden war? Den Verstorbenen zu beschimpfen war genauso fehl am Platz wie ihm recht zu geben. Ivan stotterte, daß er schon die ganze Zeit mal bei Angelo vorbeischauen wollte, um …
»Nett von dir«, sagte Angelo, »aber du bist ja sehr beschäftigt. Ich befürchte allerdings, daß du ein wenig zu voreilig losgelegt hast.«
»Was soll das heißen?« fragte Ivan.
»Daß ich das Testament anfechte«, sagte Angelo.
»Was gibt es da anzufechten? Benito hat sich doch klar genug ausgedrückt.«
»Formal gesehen, mag die letztwillige Verfügung durchaus korrekt aussehen, lieber Ivan, aber wir leben nun mal in einem Rechtsstaat, in dem man sein Vermögen nicht einfach jedem x-beliebigen vermachen kann. Nach Artikel 542 des Codice civile sind Kinder Pflichterben, was in meinem Fall bedeutet, daß …«
»Du behauptest, daß das Testament ungültig ist?«
»Nicht direkt«, gab Angelo zu, »aber sobald wir eine Herabsetzungsklage nach Artikel 553 einreichen, werden die pflichtteilswidrigen Bestimmungen gerichtlich aufgehoben werden. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, sagen die Juristen. Was den Rest des Vermögens angeht, muß erst geklärt werden, was mein Vater wirklich wollte.«
»Du kannst doch lesen, Angelo, oder?« fragte Ivan. Noch immer wirkte er eher verblüfft als wütend.
»Es ist gar nicht abwegig, daß mein Vater aus Versehen die Namen falsch eingesetzt hat. Und selbst wenn nicht, bestreiten wir, daß er wußte, was er tat. Wieso hätte er sonst dich bedacht? In seinen letzten drei Lebenstagen und damit zum Zeitpunkt der Testamentserrichtung war er unzurechnungsfähig. Das kann doch jeder von euch bezeugen. Und das bedeutet nach Artikel 591, daß sein Testament nicht das Papier wert ist, auf dem es geschrieben steht.«
Ivan starrte sein Gegenüber an. Erst langsam schien er zu begreifen, was sich abspielte. Wie alle anderen überraschte ihn die Art, in der Angelo sich ausdrückte. So, als spräche ein anderer aus ihm. Es lag nicht nur an den juristischen Spitzfindigkeiten, die kaum zu einem einfachen Lastwagenfahrer paßten. Die mochte sich Angelo in stundenlangen Beratungen mit irgendwelchen Anwälten angeeignet haben. Doch woher kam der eisige Ton in seiner Stimme? Dieser mühsam hinter trockenen Fachausdrücken versteckte Haß?
Man begann zu verstehen, wie sehr Angelo Sgreccia verletzt worden war. Es ging um ein Vermögen, ja, doch das war nicht alles. Angelos Selbstachtung hing davon ab, ob er es schaffte, das Erbe in seinen Besitz zu bekommen. Nur so konnte er ungeschehen machen, was ihm mit dem Testament angetan worden war. Warum sich sein Vater so entschieden hatte, verstand keiner, doch Angelo konnte diese Frage nicht einfach offenlassen. Er mußte sie mit nagelneuen Euroscheinen zustopfen, weil er keine Antwort darauf fand. Belog er sich damit selbst? Oder hatte er gar keine Wahl, um in Montesecco weiterleben zu können?
Ivan mochte das nicht entscheiden. Von ihm aus konnte sich Angelo therapieren, wie er wollte. Aber nicht, wenn es auf Kosten anderer ging. Auf Ivans Kosten zum Beispiel! Er sah zu dem Gerüst auf dem Flachdach der Bar hoch. Der Wind pfiff um den nackten Stahl. An der Spitze waren noch die Halterungen für die Rotorblätter zu erkennen.
»Damit kommst du nicht durch!« sagte Ivan. »Das schwöre ich dir.«
»Wir werden sehen«, sagte Angelo. Er grinste freudlos.
»Davon hätte ich doch wissen müssen? Das war der genaue Wortlaut?« Unwillkürlich beugte sich Gianmaria Curzio nach vorn, obwohl Sabrina Lucarelli keine zwei Schritte von ihm entfernt stand. Es war schon dunkel, das gelbe Licht der Laterne am Eingang
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