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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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besonderes Gewicht beizumessen. In neunzig Prozent der Fälle kämen vermißte Kinder von selbst zurück. Ein Zehnjähriger sei mal allein und ohne Geld nach Rom aufgebrochen, um den Papst zu sehen. Im Zug sei er schwarzgefahren, und in Rom hätten ihn die Drogensüchtigen an der Tor Vergata durchgefüttert. Vier Tage später sei er quietschfidel wieder zurückgekommen und habe lauthals verkündet, er wolle auch mal Papst werden. Oder Drogensüchtiger, um anderen Menschen zu helfen.
    Vannoni hatte die beiden Polizisten angebrüllt, sie sollten sofort die Fahndung einleiten, was sie zwar versprochen hatten, aber wohl nur, um endlich abhauen und in Ruhe unten in der Bar frühstücken zu können. In den umliegenden Krankenhäusern hatte Antonietta Lucarelli angerufen. Nirgends war ein unbekannter kleiner Junge eingeliefert worden.
    »Wenn meinem Sohn irgend etwas zugestoßen ist …«, sagte Catia mit klarer Stimme. Sie ließ offen, was dann geschehen würde.
    Der Halbsatz hing schwer in der Luft. Man hätte sich eine Sturmbö gewünscht, um ihn zu zerfetzen, doch es sah nicht danach aus. Der Himmel kleidete sich in ein eintöniges Grau, und auf der Piazza stand das Wasser von der letzten Regennacht. In einer großen Pfütze unter der Anschlagtafel schimmerten silbrig-violette Ölschlieren.
    »Quatsch!« Franco Marcantoni bemühte sich, locker zu klingen. »Der Kleine wird bei irgendeinem Freund untergeschlüpft sein.«
    Jeder wußte, daß Minh ein Einzelgänger war, der keine engen Freunde hatte.
    »Oder er hat sich hier irgendwo versteckt, sieht uns zu und lacht sich ins Fäustchen«, sagte Franco.
    Sie hatten jeden Winkel im Dorf durchsucht und keine Spur des Jungen gefunden.
    »Was soll denn schon geschehen sein?« fragte Franco. Er grinste aufmunternd in die Runde.
    »Er ist seit achtundvierzig Stunden verschwunden«, sagte Marta Garzone.
    »Ja und?« sagte Franco. »Er ist ein Junge. Jungen suchen Abenteuer. Als ich klein war …«
    »Seit mehr als achtundvierzig Stunden, verstehst du, Franco? Er wäre längst zurück, wenn nicht …«
    »Wenn nicht was?« Franco lachte laut auf. »Wir sind hier immer noch in Montesecco. Hier wird kein kleiner Junge entführt.«
    Niemand widersprach, niemand stimmte ihm zu. Alles andere wäre besser gewesen als dieses Schweigen. Franco hatte ein wenig Zuversicht verbreiten wollen, doch ihm wurde klar, daß er das Gegenteil erreicht hatte. Er hatte das Wort »Entführung« ins Spiel gebracht, er hatte einen Gedanken ausgesät, den die anderen nicht zu denken gewagt hatten. Und obwohl er wußte, daß solch eine Saat schneller keimte und tiefer wurzelte als das hartnäckigste Unkraut, mußte er versuchen, sie wieder auszureißen.
    »Hat jemand vielleicht einen fremden bösen Mann mit einem Sack auf dem Rücken gesehen?« fragte er höhnisch. Keiner erwiderte Francos Blick. Ein kleiner schwarzweißer Hund trollte sich übers Pflaster. Eine Taube flatterte auf. An der Anschlagtafel klebte eine Bekanntmachung der Gemeinde Pergola mit den Bestimmungen für die neue Jagdsaison. Im Westen wurde die Piazza vom Palazzo Civico begrenzt. Die Uhr an der Fassade war seit Jahrzehnten defekt. Niemand hatte es für nötig befunden, sie instand setzen zu lassen.
    Ihre Zeiger standen auf zwanzig nach acht.
    »Außerdem entführt niemand so zum Spaß«, sagte Franco, »sondern weil er Geld erpressen will. Also entführt er jemanden, der reich ist. Seid ihr reich, Catia?«
    Keiner in Montesecco war reich. Außer dem verstorbenen Benito Sgreccia natürlich. Beziehungsweise seinem Erben, wer immer das letztlich sein würde. Seit kurzem lag in Montesecco eine Menge Geld herum. War jemand auf die Idee gekommen, etwas davon aufzusammeln?
    »Und warum wurde dann nicht Ivans Sohn entführt? Oder jemand aus Angelo Sgreccias Familie?« fragte Franco.
    »Ja, wer von beiden?« fragte Marisa zurück. Am Aufgang zum ehemaligen Waschhaus standen die Dorfbewohner. Sie kannten einander so gut, wie man andere Menschen kennen kann. Jahraus, jahrein lebten sie zusammen, waren aufeinander angewiesen, halfen sich ganz selbstverständlich, wenn Not am Mann war.
    »Wenn Catia zwei Millionen Euro bräuchte, um ihren Sohn auszulösen, könntest du da nein sagen, Ivan?« fragte Marisa. Sie wandte sich zu Sgreccia. »Oder du, Angelo?«
    Catia sagte: »Es ist allein meine Schuld. Ich hätte Minh nie allein lassen dürfen.«
    »Es hat doch niemand ahnen können, daß …«, sagte Milena Angiolini.
    »Mein Fehler«, sagte Catia,

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