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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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wohlgesonnen waren. Die Dorfgemeinschaft war auf ihrer Seite gewesen, hatte getan, was getan werden konnte, und hätte dafür nur ein wenig Offenheit erwartet. Aber Catia hatte es vorgezogen, ihren Kontakt mit dem Entführer zu verheimlichen und die Sache soweit wie möglich allein durchzuziehen. Dafür hatte sie die anderen angelogen, bis es nicht mehr ging, und vielleicht sogar ein wenig länger.
    Daran war nun nichts mehr zu ändern. Und genausowenig daran, daß halb Montesecco den Ballon über jeden kleinen Feldweg verfolgen und allen die Knarre unter die Nase halten würde, die sich den Koffern näherten. Helfen würde nur, den Jungen wohlbehalten zurückzubringen, bevor eine Katastrophe geschah. Daran hatte sich nichts geändert, außer daß Vannoni sich seltsam gelähmt fühlte. Anfangs hatte er den Erfolg mit bewußtlosem, trotzigem Suchen erzwingen wollen, dann hatte er überlegt nachgeforscht, bis er sich schon fast am Ziel gesehen hatte, nur um wieder enttäuscht zu werden. Jetzt begriff er gar nichts mehr. Es gab Beweise, daß Minh entführt worden war, und es gab Beweise, daß er selbst fortgelaufen war. Außer Vannoni schien sich keiner in Montesecco über diesen Widerspruch Gedanken zu machen. Für die anderen zählte nur, was sich zuletzt ereignet hatte. Die Wahrheit vom Tag zuvor war so schnell vergessen wie ein überholter Wetterbericht.
    Vannoni betrachtete den Ballon, der knapp über der Dachterrasse des Pfarrhauses schwebte. Die silbern glänzende Kugel hatte einen Durchmesser von ungefähr sechs Metern. Gegen die alte Steinbrüstung, die verwaschenen Ziegel des Kirchendachs, den abblätternden Lack der Fensterläden des Pfarrhauses und das Unkraut, das sich in den Mauerritzen des Kirchturms festgesetzt hatte, wirkte sie in ihrer glatten Perfektion grotesk. Ein Fremdkörper, wie aus einer anderen Zeit herbeigeweht, fremder, als es ein Ufo sein könnte. Fast erwartete Vannoni, daß das Ding platzen und zu nichts verpuffen würde. Oder daß die alten Mauern Monteseccos zerfallen und statt ihrer Stahlkonstruktionen und kühle Glasfassaden in den Himmel wachsen müßten. Aber nichts dergleichen geschah. Natürlich nicht. Der Ballon schwebte einfach mitten in Montesecco, und wenn Vannoni sich die Mühe machen würde, die Treppe des Pfarrhauses hinaufzusteigen, würde er ihn sogar berühren können.
    »Klasse, was?« rief Ivan vom Dach herab.
    Vannoni nickte. Nicht alles, was unvereinbar schien, war auch unvereinbar. Wenn es Beweise sowohl für als auch gegen eine Entführung gab, dann war eben beides richtig. Als Catia ihren Sohn nicht nach Apulien mitgenommen hatte, war Minh tatsächlich weggelaufen und hatte sich im Haus des Americano versteckt. Irgendwer aus dem Dorf hatte ihn dort entdeckt, aber aus irgendwelchen Gründen den Mund gehalten. Vielleicht war dieser Mensch sofort auf die Idee gekommen, dabei abzukassieren, wahrscheinlich aber erst später. Zuerst ging es ihm wohl nur darum, den Leuten im Dorf eins auszuwischen. Ohne es wirklich ernst zu meinen, schrieb er die Lösegeldforderung und begann den Jungen darin zu bestärken, nicht aufzugeben und es den anderen, die sich nicht um ihn geschert hatten, mal richtig zu zeigen.
    Und diese anderen machten sich tatsächlich daran, das Lösegeld zu beschaffen. Aus dem grausamen Spaß erwuchs plötzlich die Chance auf ein neues Leben. Zwei Millionen Euro waren zum Greifen nahe, wenn der Junge nur noch ein wenig durchhielt, aber irgendwann konnte Minh nicht mehr, er hatte genug, wollte zu seiner Mutter zurück. Keine Bitten, keine Versprechungen, keine Lügen über die Gleichgültigkeit der Dorfbewohner, kein Appell an seine Indianerehre zogen mehr, Minh wollte einfach nur nach Hause, wo vielleicht schon zwei Koffer mit jeweils einer Million Euro herumstanden, und dann, erst dann, wurde der Entführer zum Entführer. So kurz vor dem Ziel mochte er nicht aufgeben, auch wenn er den Jungen nun mit Gewalt festhalten mußte.
    Ob er Minh geknebelt und mit Gewalt aus dem Haus des Americano verschleppt hatte, wußte Vannoni nicht. Vielleicht hatte er ihn auch dazu überredet, etwa mit dem Vorschlag, noch irgendwo einen Blumenstrauß für Catia zu besorgen. Doch Vannoni glaubte zu begreifen, was in dem Entführer vorgegangen war und was ihn so weit getrieben hatte: Fast noch wichtiger als das Geld selbst warder unbedingte Wille geworden, die einmalige Chance zu nutzen, die ihm der Zufall geboten hatte. Ein wenig Angst vor der eigenen Courage schwang mit,

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