Die Drachen von Montesecco
von den Koffern mit dem Geld entfernt. Er wandte mir den Rücken zu, hatte vielleicht eine Pistole gezückt, und deshalb gab ich sicherheitshalber einen Warnschuß …«
»Der hätte mich fast erschossen!« rief Michele empört aus.
»Das kann noch passieren, wenn du nicht die Klappe hältst«, zischte Angelo. Der Lauf seines Gewehrs wanderte am Rückgrat des Mannes nach oben. Die Mündung lag jetzt am Hemdkragen.
»Nimm die Flinte weg, bevor ein Unglück geschieht!« sagte Ivan. »Das ist kein Spaß.«
»In der Tat«, schnaubte Angelo.
»Vielleicht solltest du uns ein paar Dinge erklären, Ivan«, sagte Antonietta. Auch die anderen wollten gern wissen, wer Ivans sauberer Freund wirklich war, wieso Ivan ihn hergeholt und wer ihn auf die Idee gebracht hatte, bei Catia einzubrechen.
»Wie wäre es, wenn du dich mal zu uns herunterbemühen würdest?« fragte Angelo zuckersüß. Das Gewehr schwenkte kurz zur Seite und zielte auf den silbernen Ballon über dem Dach. Ivan seufzte und verschwand Richtung Treppe. Kurz danach stand er unten auf der Piazzetta.
»Also?« fragte Marisa.
»Und?« fragte Ivan zu Michele hin.
»Alles klar«, sagte Michele.
»Schieß los, Ivan!« sagte Donato.
»Sonst tu ich es«, sagte Angelo.
»Laß Michele in Ruhe!« sagte Ivan. »Ich schwöre euch, daß er das Geld nicht klauen wollte. Es ging um etwas völlig anderes. Je weniger ihr davon wißt, desto besser ist es. Und zwar für alle Beteiligten. Vertraut mir einfach, ich mache das schon!«
Ivan grinste breit. Die anderen sahen sich an. War es möglich, daß Ivan die Situation so gründlich mißverstand? Oder spielte er nur den Unbedarften, weil er viel mehr zu verbergen hatte, als man eh schon vermutete? Auf jeden Fall mußte man ihn zum Reden bringen.
»Wir sollten die beiden erst mal fesseln«, sagte Marisa Curzio.
»Und in der Sebastianskapelle einsperren, bis sie zur Vernunft kommen«, sagte Donato.
»Wieso gerade in der Kapelle?« fragte Lidia Marcantoni.
»Wegen der schweren Tür und den winzigen Fenstern. Die ist ausbruchssicher.«
»Trotzdem«, sagte Lidia. »Die Kapelle ist ein geweihter Ort. Sollten wir sie nicht besser gleich hier foltern, bis sie …«
»Foltern?« quiekte Michele. »Ihr seid doch total verrückt!«
»Das meinen die nicht ernst«, sagte Ivan.
»Nein?« fragte Angelo. Er ging um Michele herum und drückte ihm den Lauf des Gewehrs unters Kinn. Michele legte den Kopf in den Nacken und wich langsam bis zur Außenmauer der Kapelle zurück, als Angelo den Druck erhöhte. Angelos Mundwinkel zitterten vor mühsam unterdrückter Wut. Er war alles andere als ein gewalttätigerMensch. Über zwanzig Jahre lang hatte er sich als Lastwagenfahrer abgearbeitet, war auf tagelangen Touren in ganz Europa unterwegs gewesen, um für Elena und sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Im Dorf hatte er sich nie besonders hervorgetan, er galt als verläßlich, gutmütig, ein wenig langweilig und farblos. Er war einer von denen, die man leicht vergaß, wenn man aufzählte, wer sich am Abend vorher in der Bar hatte blicken lassen. Von ihm erwartete man keinen gewagten Witz, keine überraschende Entscheidung und erst recht keine Gewalttat an einem Fremden, der ihm nichts getan hatte.
Und doch schien es denkbar, daß er gleich einen Menschen ermordete. Daß er irgendeine Verwünschung zwischen den Zähnen herauspreßte, den Finger krumm machte und Michele eine Kugel durch den Schädel jagte. Ja, es schien sogar wahrscheinlich, wenn man das verzerrte Gesicht Angelos betrachtete und sich fragte, was um Himmels willen mit diesem Mann geschehen war, der ein Gewehr in den Kehlkopf eines anderen Menschen drückte. Litt er so sehr unter dem Verlust seines Vaters? Hatte er nicht verkraftet, daß ihm unvermutet ein Vermögen in den Schoß gefallen war, das ihm sofort wieder zu entgleiten drohte? Hatte er sich beim Versuch, dagegen anzukämpfen, so tief in einem Gewirr aus taktischem Verhalten, juristischen Winkelzügen, populistischer Stimmungsmache und wechselseitiger Intrige verheddert, daß er nach einem beliebigen Opfer verlangte, an dem er seine Frustration auslassen konnte?
»Die Koffer standen doch da«, krächzte Michele. »Ich hätte nur zugreifen müssen. Das habe ich aber nicht getan. Ich wollte doch bloß …«
»Sei still!« sagte Ivan.
»Sprich weiter!« sagte Angelo. Er zog das Gewehr ein wenig zurück. Ein roter Ring am Hals Micheles zeigte, wo sich die Mündung in die Haut gedrückt hatte. Angelo ließ den
Weitere Kostenlose Bücher