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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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»Man kann in einen Menschen halt nicht hineinschauen. Ich habe da zum Beispiel vor Jahren eine Geschichte erlebt, die so unglaublich ist, daß …«
    »Angelo, könntest du den Kerl bitte erschießen, bevor er seinen Satz zu Ende bringt«, sagte Marisa Curzio.
    »Und?« fragte ich.
    »Ein neuer Drachen ist fertig.«
    »Schön! Und?«
    Der Junge zeigte auf einen Würfel aus Bambusrohren. Fünf Seiten waren mit verschiedenfarbigem Seidenpapier bespannt, eine Seite blieb frei.
    »Das soll ein Drachen sein? Es sieht wie ein Lampion aus«, sagte ich.
    Der Junge griff nach den Schnüren, die um das offene Quadrat befestigt waren. »Es ist ein Lenkdrachen. Was glaubst du, wie der fliegen wird!«
    »Na, wenn du das sagst! Und?«
    Der Junge zog den Würfeldrachen an sich. »Und … man kann ihn steuern. Man kann sogar …«
    »Das habe ich nicht gemeint.« Langsam wurde ich ärgerlich.
    »Was hast du dann gemeint?«
    Ich nahm dem Jungen den Drachen weg. Ich hatte keinen guten Tag. Das kommt eben mal vor. Schließlich bin ich auch nur ein Mensch. Trotzdem konnte der Junge nicht allen Ernstes glauben, daß ich mich für seine Bastelarbeiten interessierte. Irgendwann mußte er begreifen, daß es um Wichtigeres ging. Nicht zuletzt in seinem eigenen Interesse. Ich tat, was ich konnte, aber wenn er sich nicht auch selbst ein wenig Mühe gab, würden wir nie zum Ziel kommen.
    »Und?« fragte ich noch einmal.
    Der Junge schüttelte den Kopf.
    »Du willst mir nicht antworten?«
    »Doch«, sagte der Junge schnell, »natürlich.«
    »Also?«
    »Ich weiß doch nicht, was du wissen willst.«
    »Ich? Um mich geht es doch gar nicht. Es geht einzig und allein um dich und um das, was du fühlst und denkst.«
    »Ich denke ans Drachensteigenlassen«, sagte der Junge.
    »Nein, das tust du nicht.«
    »Woran denke ich dann?« Der Junge war schon wieder fast am Weinen.
    »Das mußt du doch selbst wissen!«
    Der Junge schluchzte. Wahrscheinlich war das nicht so einfach für einen Achtjährigen. Da er mir leid tat, wollte ich ihm noch einmal helfen. Aber oft durfte das nicht mehr vorkommen. Ich wurde nicht laut, wunderte mich selbst, wie warm meine Stimme klang. »Vergiß mal den Drachen! Hör einfach tief in dich hinein, ganz tief! Und dann sag mir, woran du denkst!«
    Der Junge sah mich an. Ich lächelte ihm zu, und er senkte den Blick. Es dauerte vielleicht eine halbe Minute, bis er sagte: »Ich denke an den schwarzen Mann, der mich entführt hat. Er trägt eine Maske, aus der die Augen …«
    »Siehst du? Es geht doch!« Ich ließ ihn die wichtigsten Informationen herunterbeten. Dann gab ich ihm den seltsamen Würfeldrachen zurück.
    Seit er tot war, war Benito Sgreccia nicht wiederzuerkennen. So gesprächig hatte ihn Gianmaria Curzio die letzten achtzig Jahre nicht erlebt. Man konnte sich ganz ausgezeichnet mit ihm unterhalten, und daß er nicht an der Grappaflasche nippte, obwohl Curzio sie ihm mehrmals anbot, war zu verschmerzen. So blieb mehr für Curzio selbst.
    Die Schnapsflasche hatte er in einer leeren Grabnische der untersten Reihe deponiert, nachdem er die Deckplatte entriegelt und zur Seite gestellt hatte. Auch ein paar Piadine und ein großes Stück Schafskäse lagerten nun dort. Der Klappstuhl, den Curzio aus dem Dorf mitgebracht hatte, stand an einer windgeschützten Stelle der Friedhofsmauer. Wenn es abends nicht so kalt geworden wäre, hätte Curzio keinen Grund gesehen, überhaupt noch ins Dorf zurückzukehren. Dort konnte er sowieso mit niemandemreden. Zumindest verstand ihn keiner annähernd so gut wie der tote Benito Sgreccia in seinem Eichensarg. Oder es wollte ihn keiner verstehen. Seit diese fünfeinhalb Millionen Euro herumspukten, erkannte er sein Dorf nicht wieder. Offensichtlich war Curzio der einzige, der sich fragte, wie es so weit hatte kommen können.
    »Gut, du hast dein Geld zusammenspekuliert, Benito«, sagte Curzio, »aber dennoch bleiben eine Menge Fragen offen.«
    »Das will ich meinen«, sagte Benito von irgendwoher.
    Curzios größtes Problem war das Testament. Wenn es das nicht gäbe, würde alles wunderbar zusammenpassen: Angelo wußte vom Reichtum seines Vaters, und als der begann, sein Geld mit vollen Händen auszugeben, beschloß er, ihn umzubringen, weil er das Vermögen lieber selbst genießen wollte. Nur war Angelo dummerweise enterbt worden. Curzio hatte in Rom angerufen, nachdem Franco Marcantoni die Nummer unter der Bedingung herausgerückt hatte, daß Wilma von ihm herzlichst gegrüßt werde,

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