Die Drachen von Montesecco
Gleichgewicht verlierst.«
Catia klatschte langsam und schwer in die Hände. Einmal, zweimal, dreimal. Hohl kam der Hall von der Kirchenmauer zurück. Als hämisches Echo auf den schleppenden Applaus, der einen Schauspieler auf der Bühne mehr verhöhnt hätte, als es Stürme von Buhrufen vermochten. Catia sagte: »Bravo, bravo! Da bemüht so ein erbärmlicher Wicht wie du doch glatt den Kosmos, um zu rechtfertigen, daß er über Leichen geht. Nur um ein bißchen Geld festzuhalten, das ihm vielleicht gar nicht gehört.«
»Es geht darum, den zu schnappen, der deinen Sohn entführt hat«, sagte Ivan.
»Es geht darum, daß mein Sohn am Leben bleibt«, sagte Catia.
»Mit Däumchendrehen rettet man niemanden.«
»Du sollst niemanden retten!« schrie Catia. »Keiner soll versuchen, Minh zu retten. Ihr sollt einfach nur Ruhe geben!«
Catia und Ivan standen sich gegenüber. Ein silberner Ballon schwebte über dem Pfarrhaus. Die beiden Eschen auf der Piazzetta hatten ihre Blätter fast vollständig abgeworfen. Es sah aus, als seien sie abgestorben, erstickt durch den Asphalt, den ihre Wurzeln wölben, aber nicht durchbrechen konnten. Das welke Laub war durch den Wind am Fuß der Steinbrüstung aufgehäuft worden. Die Fläche davor wirkte verlassen. Es fiel schwer, sich vorzustellen, daß dort im Sommer Tische standen, auf die Ivan gegen Abend Karaffen mit zu warmem Weißwein stellte und zwischen denen Minh mit einem Wassereis in Raketenform umherspazierte. Nun war Herbst. Es war kühl.
»Wie lange würdest du brauchen, Michele?« fragte Ivan.
»Ein Anruf, und eine Viertelstunde später habe ich den Namen zu der Handynummer«, sagte Michele. Er zündete sich noch eine Zigarette an.
»Eine Viertelstunde, dann könnten wir es wissen.« Ivan nickte. Er sagte: »Die Entscheidung liegt bei euch. Wenn die Mehrheit dafür ist, ruft Michele an. Wenn nicht, dann nicht.«
Niemand reagierte.
»Dann fährt Michele nach Rimini zurück und vergißt die Sache, genauso wie wir sie vergessen. Wir setzen uns vor den Fernseher und warten, bis Minh zurückkommt oder bis irgendwer in ein paar Jahren zufällig seine Leiche findet.«
Irgend jemand murrte. Donato schüttelte den Kopf. Catias Lippen zitterten. Sie brachte kein Wort mehr heraus.
»Ihr habt kein Recht, über so eine Frage abzustimmen«, sagte Matteo Vannoni. »Es geht um Catias Sohn und …«
»Ich stelle fest, Matteo ist dagegen«, sagte Ivan. »Was ist mit euch anderen?«
»Anrufen kann man ja mal«, sagte Donato.
»Dann können wir immer noch entscheiden, ob wir etwas unternehmen«, sagte Elena.
»Es ist eine Chance«, sagte Marisa.
»Bevor man gar nichts tut«, sagte Milena.
»Anrufen!« sagte Marta.
»In Gottes Namen, ja!« sagte Lidia und schlug ein paar schnelle Kreuzzeichen.
Angelo Sgreccia legte das Gewehr über die Schulter. Augenscheinlich fiel es ihm schwer, sich auf die Seite Ivans zu schlagen, doch schließlich nickte auch er. Nur Antonietta und ihre Töchter zögerten noch, aber auf ihre Stimme kam es nicht mehr an.
»Das ist die Mehrheit«, sagte Ivan.
Michele nickte. Er schnippte die Zigarettenkippe über die Steinbrüstung, holte sein Handy aus der Tasche und tippte eine Nummer ein.
Ivan ging zur Tür seiner Bar. Der Schlüssel steckte außen. Ivan drehte ihn und stieß die Tür nach innen auf. Die anderen folgten ihm. Wortlos stellte Ivan eine Reihe von Schnapsgläsern auf die Theke und schenkte Averna aus. Die meisten griffen zu. Einen Magenbitter konnte man jetzt vertragen. Es dauerte gerade mal zehn Minuten, bis auch Michele die Bar betrat. Ohne die Dorfbewohner zu beachten, ging er zur Theke und verlangte ein Bier.
»Und?« fragte Ivan.
»Erst das Bier«, sagte Michele.
»Mach es nicht so spannend!« sagte Ivan, doch er schenkte ein Glas ein.
Michele kippte es hinunter, machte »ah«, schob Ivan das leere Glas zu und sagte: »Es ist einer aus Montesecco. Ratet mal, wer!«
Ivan tippte auf Franco Marcantoni. Vielleicht habe das niemand sonst mitbekommen, aber der Alte sei ganze Nächte nicht zu Hause gewesen. Michele schüttelte den Kopf und hob das zweite Bier. Angelo Sgreccia klopfte auf sein Gewehr. Er sagte: »Es reicht. Ich zähle bis drei. Eins, zwei …«
»Curzio«, sagte Michele schnell. »Das Handy gehört einem gewissen Gianmaria Curzio.«
»Sehr witzig«, sagte Marisa.
»Kennt den jemand von euch?« fragte Michele.
»Flüchtig«, sagte Marisa. »So gut man seinen eigenen alten Vater halt kennt.«
»Tja«, sagte Michele.
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