Die Drachen von Montesecco
daß sie zuvorkommend zu behandeln sei und keinesfalls als Nutte bezeichnet werden dürfe. Wilma hatte geschworen, daß mit dem Testament alles seine Richtigkeit hatte. Also mußte Curzio es ernst nehmen. Und zwar als Indiz, das Aufschluß über ein mögliches Verbrechen geben konnte.
Daß es Angelo nicht gefallen konnte, von seinem Vater praktisch enterbt zu werden, war klar. Doch wie hatte er überhaupt von dem Testament erfahren, wenn Benito es erst am Abend vor seinem Tod abgefaßt und im Pfarrhaus verwahrt hatte? Selbst wenn die Nutten geplaudert haben sollten, hätte Angelo dann in so kurzer Zeit einen nicht nachweisbaren Mord planen und durchführen können? Und warum hatte er nicht das Pfarrhaus auf den Kopf gestellt, um das Testament zu vernichten, wenn er schon deswegen gemordet hatte? Nein, das paßte alles nicht zusammen. Das Testament konnte nur der Schlüssel zu BenitosTod sein, wenn es viel früher verfaßt und irgend jemandem aus dem Dorf bekannt gewesen wäre.
»Genau«, flüsterte Benitos Stimme.
»Genau?« fragte Curzio. War es so gewesen? Hatte jemand das Testament nachträglich umdatiert? Oder hatte es gar ein erstes Testament gegeben, das Benito genau da aufbewahrt hatte, wo man es vermuten würde: bei sich zu Hause, in seinen persönlichen Unterlagen. Dort konnte es zum Beispiel Angelo schon viel früher gefunden haben. Natürlich hatte er seinen Vater zur Rede gestellt und ihn aufgefordert, diesen letzten Willen zu vernichten. Benito hatte eingelenkt, doch bald mußte ihm klargeworden sein, daß er nun in permanenter Lebensgefahr schwebte. Denn was außer seinem plötzlichen Tod hätte ihn hindern können, das gleiche Testament noch einmal aufzusetzen?
Er beschloß, zu genießen, was ihm vom Leben noch blieb, und zog ins Pfarrhaus um. Dort umgab er sich auch deshalb mit Nutten, Bediensteten und Musikern, um seinem mißratenen Sohn einen Mordanschlag so schwer wie möglich zu machen. Doch es nützte nichts, Angelo fand Mittel und Wege, um ihn binnen dreier Tage aus dem Weg zu schaffen. Nicht schnell genug allerdings, um die Abfassung eines neuen Testaments zu verhindern, das Benito den Nutten anbefahl, weil Angelo unweigerlich davon erfahren hätte, wenn jemand aus dem Dorf eingeweiht worden wäre. Doch die Nutten vergaßen das Testament in derselben Sekunde, in der ihnen klar wurde, daß Benito nie mehr seine Geldbörse für sie öffnen würde.
»Warum hast du denn niemandem etwas gesagt, Benito?« fragte Curzio.
»Wer hätte denn geglaubt, daß mein eigener Sohn mich umbringen will? Du vielleicht?« fragte Benito zurück.
Er hatte recht. Die anderen hatten ihn schon für verrückt erklärt, und Curzio selbst wußte es jetzt zwar besser, doch damals hätte er über so einen Verdacht wohl nur nachsichtig gelächelt. Dennoch sagte er: »Warum denn nicht?«
»Gianmaria!« rief Benito streng. Seine Stimme war plötzlich viel weiter entfernt.
»Bleib da, Benito!« bat Curzio. Er brauchte seinen Freund jetzt dringender als je zuvor, denn er spürte, daß es ernst wurde. Zwar hatte er immer gewußt, daß Benito einem Verbrechen zum Opfer gefallen war, aber er hatte sich dennoch Illusionen gemacht. Als ob er nur eine Art Kreuzworträtsel vor sich hätte, in das man die passenden Begriffe einsetzen mußte. Jetzt begann er zu begreifen, daß es nicht damit getan war, einen Mörder zu entlarven, der so lange stillhalten würde, bis Curzio genügend Beweise hatte, um ihn der Polizei auszuliefern. Nein, Curzio war ein alter Mann, der einem entschlossenen Mörder nicht viel entgegenzusetzen hatte. Curzio mußte höllisch aufpassen. Und er stand ziemlich allein.
»Benito?« fragte er und nahm einen langen Schluck aus der Grappaflasche.
»Gianmaria!« rief Benito. Seine Stimme war nicht nur weit weg, sie klang nun auch fremd.
Curzio zwang sich, in Ruhe nachzudenken. Wenn es ein erstes Testament gegeben hatte, dann stellten sich zwei Fragen: Wie war Angelo auf die Idee gekommen, danach zu suchen? Und wer hatte bei diesem ersten Testament als Zeuge unterschrieben? Es lag nahe, daß sich Benito zuerst an jemanden aus dem Dorf gewandt hatte, der dann Angelo einen Tip gegeben hatte. Doch wieso hatten die Zeugen nach Benitos überraschendem Tod kein Sterbenswörtchen von dem Testament gesagt? Warum hatten sie geschwiegen, wenn auch der Dümmste unter diesen Umständen ein Verbrechen vermuten mußte? Vielleicht gab es gar keinen einzelnen Mörder, vielleicht stand Curzio einer gigantischen Verschwörung
Weitere Kostenlose Bücher