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Die Drachen von Montesecco

Die Drachen von Montesecco

Titel: Die Drachen von Montesecco Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Jaumann
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stammte von keinem Vater und keiner Mutter ab, sein älterer Bruder war nicht an Aids gestorben, und er hatte auch keine drei Schwestern, von denen er nicht wußte, ob sie noch lebten. Er besaß keinen Paß, keinen Wohnsitz und erst recht keine Bankverbindung. Er hatte keinen Geburtstag, ja nicht einmal ein Alter. Daß er sich in Dakar seit seinem zwölften Lebensjahr das Schneidern selbst beigebracht hatte, daß er die knappen Ersparnisse aus sieben Jahren Arbeit einer Schlepperbande abgeliefert hatte, die ihn durch halb Afrika und übers Meer geschafft hatte, daß er fast verdurstet wäre, als er sich in Sizilien vor den Carabinieri versteckt hatte, das interessierte so wenig, daß es nicht wahr sein konnte.
    Mamadou Thiam hatte weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft, er hatte keinen Traum von einem besseren Leben, denn ein Vucumprà hatte all das nicht zu haben. Von Mai bis September beschränkte sich seine Existenz darauf, durch den heißen Sand an der Adriaküste zu trotten und den Urlaubern mal Sonnenbrillen und gefälschte Markenuhren, mal bunte Strandtücher und billige T-Shirts anzubieten. Zu Recht wurden Mamadou und seine Kollegen aus Gambia, Guinea und Kamerun nach der einzigen Frage benannt, die sie an Menschen mit Namen und Bankkonto richten durften: »Vuoi comprare? Willst du kaufen?«Und mit noch größerem Recht wurde diese Benennung zu »Vucumprà« verballhornt, denn so spiegelte sie viel besser wider, wie dumpf, eindimensional, unvollständig und falsch die Existenz war, die man einem wie Mamadou in Italien zubilligte.
    Er solle sich nicht beklagen, hatte Habib gesagt, schließlich würden sie nicht zusammengeschlagen werden, wie es in anderen Ländern Europas anscheinend üblich war. Sie würden nicht bedroht, nur selten beschimpft werden, und daß sie mit fünf anderen in einem kahlen Zimmer schliefen, seien sie doch von zu Hause gewohnt. Sicher war das alles richtig, doch es genügte Mamadou nicht. Nicht mehr. Seit er gestern diesen seltsamen Gedanken gehabt hatte.
    Ende September, als die Sonne den Sand endlich nicht mehr zum Glühen brachte und ein frischerer Wind vom Meer her wehte, hatten sie ihn vom Strand in Senigallia nach Urbino geschickt. Außerhalb der Badesaison lief das Geschäft für einen Vucumprà – wenn überhaupt – nur in Kulturstädten mit Ganzjahrestourismus. Mamadou wäre lieber nach Rom oder Venedig gegangen, aber da hatte sein Chef nur gelacht. Er solle sich erst bewähren, in fünf, sechs Jahren könne man vielleicht mal darüber reden. Und Urbino war ja auch eine Stadt mit prächtigen Palästen, zumindest von außen, und es lag so schön oben auf dem Hügel. Vielleicht war es ein wenig kalt, wenn der Herbstwind in den engen Gassen Fahrt aufnahm und die Fassaden auf den Plätzen erzittern ließ.
    Mamadou hatte sich mit seinem Koffer vor dem alten Universitätsgebäude oberhalb des Herzogspalastes postiert. Die schwarz kopierten CDs und Videos, die er nun anzubieten hatte, wurden eher von Studenten als von Touristen gekauft. Wenn er nicht vor einer der gelegentlichen Polizeikontrollen abhauen mußte, war sein Tagesablauf langweilig. Meistens saß er nur da und versuchte seine Erinnerungen an daheim zu verdrängen, indem er die Passanten beobachtete und sich vorstellte, wohin sie gingen,wer sie dort erwartete und was sie dann taten. Daß er vor allem den jungen Mädchen nachsah, fand er nicht verwerflich. Es waren ja nur Blicke, und mehr würde daraus nie werden, denn wer auch immer hier vorbeiging, lebte in einer Welt, für die einer wie Mamadou nicht existierte und nie existieren würde.
    Der Gedanke, der alles veränderte, überkam ihn, als ein Mann, der dreimal so alt wie er selbst sein mochte, eine CD von Lucio Dalla kaufte. Mamadou reichte dem Mann die CD über den Koffer hinweg, nahm das Geld entgegen, und da fiel ihm der Gegensatz zwischen ihren Händen auf. Seine eigene war glatt und schwarz, die des alten Mannes hell und verschrumpelt, doch was sie wirklich unterschied, war, daß die Hand des alten Mannes auf Geld stieß, wenn sie in die Tasche griff. Aus irgendeinem Grund schien das bedeutsam zu sein, und als der Mann schon längst weg war, starrte Mamadou noch auf seinen Handrücken, auf dem die Adern nicht blau hervortraten, sondern wie unterirdische schwarze Flüsse wirkten.
    Er wendete seine Hand, blickte auf die Handfläche, die bis auf die dunklen Striche in den Fingergelenken fast so weiß war wie die des alten Mannes, und dann ballte er eine Faust

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