Die Drachen von Montesecco
und dachte, daß er ein Mensch war. Wie alle anderen auch. Kein Vucumprà, sondern ein Mensch mit allem, was dazugehörte. Mit zwei Händen, mit Menschenwürde und mit dem Recht auf ein Leben, das diese Bezeichnung verdiente. Irgendwann war es an der Zeit, darauf zu bestehen, und welcher Moment konnte besser dafür geeignet sein als dieser?
Mamadou ließ den Blick über die absteigenden Fassaden der Häuser gegenüber gleiten, über das graue Pflaster, blickte hinab zu der Stelle, wo sich die Piazza vor Herzogspalast und Dom erweiterte. Er hätte die Unterschiede nicht benennen können, doch alles sah anders aus. Die Passanten gingen vorbei, als wäre nichts geschehen. Mamadou ließ sich nicht beirren. Er suchte ein paar CDsheraus, Giorgio Gaber, Francesco De Gregori, Eros Ramazotti, und drückte sie einem Mädchen, das nicht einmal besonders hübsch war, in die Hand. »Da, das schenke ich dir, wenn du mir sagst, wie du heißt.«
Es hätte ihm nicht viel ausgemacht, wenn die junge Frau ihn stehengelassen hätte. Alles war gut, solange er nicht mehr »vuoi comprare?« fragen mußte. Doch sie antwortete ihm sogar. Sie hieß Lucia. Mamadou fand, daß das ein sehr schöner Name war. Daß sie nicht fragte, wer er sei, konnte er verschmerzen. Er wußte, wer er war. Er hatte einen Namen, er hatte eine Geschichte, er hatte Träume, er war auf dem besten Weg, ein Mensch zu werden. Und deshalb nahm er sich die Freiheit, den Koffer mit den Raubkopien vor dem alten Universitätsgebäude in Urbino zurückzulassen und aus der Stadt zu verschwinden, ohne Habib und den anderen oder gar seinem Chef Bescheid zu geben.
Er ging über den Berg nach Aqualagna, wo er einen Laib Olivenbrot kaufte. Danach hatte er noch zwölf Euro dreißig in der Tasche. Das würde eine Weile reichen, und dann würde er weitersehen. Irgendeine Chance würde sich ergeben, dessen war sich Mamadou sicher, denn er war jetzt wieder jemand. Von den Menschen, die ein Haus besaßen und alle paar Jahre ein neues Auto kauften, trennte ihn nur, daß er kein Geld hatte. Aber was die konnten, konnte er auch, und wenn dazu wirklich ein Wunder nötig sein sollte, dann würde dieses Wunder eben geschehen.
Mamadou überlegte, ob er der Via Flaminia Richtung Rom folgen sollte, zog dann aber verkehrsarme Feldwege vor. Hinter Cagli stieß er auf die Straße, die nach Pergola führte. Er folgte ihr wenige Kilometer, bis er an einer in Stein gefaßten Quelle anlangte. Da es schon dämmerte, beschloß er, im Dickicht dahinter zu übernachten. Kalt würde es überall werden, und hier gab es immerhin frisches Wasser. Stunden vor Morgengrauen wachte Mamadou fröstelnd auf, aß ein Stück Brot, trank und brach auf.Damit ihm warm wurde, ging er schneller als sonst. Der Nachthimmel war bedeckt, doch Mamadou glaubte sowieso nicht, daß ihm die Sterne den Weg weisen würden. Er hoffte auf ein Zeichen, ein ungewöhnliches, einzigartiges, nur für ihn bestimmtes Zeichen, das ihm bedeuten würde, was er zu tun und wohin er sich zu wenden hatte.
Ein Igel trippelte vor ihm über die Straße. Fern klagte ein Käuzchen. Rechts schwebten gelbe Lichter in der Nacht und ließen die Umrisse eines Turms und starker Mauern erahnen. Der Wind kam von Osten. Mamadou ging ihm entgegen. Einmal überholte ihn ein Auto. Schon von weitem erfaßten ihn die Scheinwerfer und warfen seinen Schatten überlang auf den grauen Asphalt vor ihm. Der Fahrer hupte, als er vorbeifuhr, und Mamadou grüßte mit der Hand. Sie waren beide Menschen, der Autofahrer und er.
Allmählich färbte sich der Horizont vor Mamadou in ein schmutziges Rosa. Er dachte an den Fußmarsch durch die mauretanische Wüste zurück, als der offene Lastwagen der Schlepper liegengeblieben war. Schweigend waren sie gegangen, im Gänsemarsch, einer in den Fußstapfen des anderen, und Mamadou, der einer der letzten in der Reihe war, starrte auf die Spur, die von der Menge der Sandalen breit und unförmig wurde. Er tappte genauso in die Abdrücke hinein wie die vor ihm und trug so dazu bei, sie in den Wüstensand zu brennen, aus dem damals die Welt bestand, denn jeder andere Gedanke verglühte in flirrender Hitze.
Nun freilich war es kühl, auch wenn die Sonne, die inzwischen zwei Handbreit über dem Horizont stand, eine Lücke zwischen den Wolken gefunden hatte. Hell glänzten ihre Strahlen, vor allem dort drüben, hinter den taunassen Wiesen, knapp über dem Wald, der den Hügel bedeckte. Eine zweite Sonne schien dort aufzugehen, eine silberne
Weitere Kostenlose Bücher