Die Drachen von Montesecco
später das neue gekauft.«
»Ist das wahr?« fragte Marisa.
Wieso sollte das nicht wahr sein? Was hatte Curzio davon, wegen so einer Lappalie zu lügen? Und überhaupt gehörte es sich nicht, daß ihn die eigene Tochter verhörte, als verdächtige sie ihn eines Kapitalverbrechens. Er hätte gern mit Benito über diesen Verfall der Sitten diskutiert, doch er wollte vermeiden, daß Marisa im Dorf verbreitete, ihrVater würde sich mit den Toten unterhalten. Das ging niemanden etwas an. Es genügte, daß er selbst das Gefühl hatte, das Leben habe ihn überholt und sei in der Ferne verschwunden. Nur er war an einer gottverlassenen Stelle, an die sich sonst keiner mehr erinnerte, zurückgeblieben.
»Also gut, dann ist es eben wahr.« Marisa nickte, doch an ihren Augen erkannte Curzio, daß sie zweifelte. Er sah darin Unverständnis, Unglauben, Abwehr, ja eine mühsam unterdrückte Bitternis über sich selbst, weil sie ihm im Grunde ihres Herzens nicht glauben konnte, obwohl sie es versuchte, und er wußte, daß er nicht einmal auf seine Tochter zählen konnte. Zwar hatte sie ihn aus dem Grab befreit, würde vielleicht sogar das Stillschweigen bewahren, um das er sie gebeten hatte, doch mehr war nicht von ihr zu erwarten.
Im selben Moment, als Marisa ihn aufforderte, mit ihr hinauf ins Dorf zu gehen, um dort alles zu klären, wurde ihm klar, daß er weg mußte. Und zwar allein. Vielleicht hätte Marisa das sogar verstanden, aber er wollte nichts riskieren. Er lächelte sie an und sagte, daß er genau dasselbe wie sie habe vorschlagen wollen, nur solle sie ihn vorher noch ein Stündchen oder zwei allein lassen. Er sei immerhin von den Toten auferstanden und müsse den Wind auf seiner Stirn spüren und das Tageslicht ein wenig genießen, um es wirklich glauben zu können.
Marisa sah ihn prüfend an. Ganz offensichtlich wäre ihr lieber gewesen, ihn nicht aus den Augen zu lassen, sei es aus Sorge, sei es aus Mißtrauen.
»Bitte!« sagte Curzio. »Ich brauche ein wenig Zeit für mich.«
»Mach bloß keinen Blödsinn!« sagte Marisa. Sie drückte Curzios Hand, stand auf und entfernte sich Richtung Friedhofstor.
Curzio machte keinen Blödsinn. Er wartete, bis Marisa fast oben im Dorf angekommen sein mußte, fragte Benito, ob er ihn vielleicht begleiten wolle, und machte sich, als erkeine klare Antwort bekam, allein auf den Weg. Statt nach Montesecco zurückzukehren, bog er nach rechts ins Tal hinab. Obwohl die ersten heftigen Regenfälle schon niedergegangen waren, war die Straße noch gut in Schuß. Den Hof Ranieris in der Kehre passierte er so vorsichtig, daß ihn nur die Gänse und Truthähne am Straßenrand bemerkten. Er ging langsam weiter und nahm jeden Schritt so bewußt wahr, als ahne er insgeheim, daß er nie mehr zurückkommen würde. An den Hang jenseits des Cesano klammerten sich die Häuser von San Vito. Das Grau des Himmels lastete schwer auf den Dächern. Die Kopfweiden unten im Tal waren schon geschnitten. Verstümmelt sahen sie aus, und anklagend hell leuchteten die Schnittflächen, wo sie ihrer Gliedmaßen beraubt worden waren.
Auf einem Trampelpfad umging Curzio die Mühle, an der er wahrscheinlich auf Bekannte gestoßen wäre. Vor der kleinen Brücke über den Cesano wartete er hinter noch belaubten Büschen, bis die Luft rein war, und als er die Hauptstraße erreichte, setzte er sich etwas abseits der Abzweigung nach Montesecco unter eine Steineiche. Von dort beobachtete er knappe zwei Stunden lang die Wagen, die vorüberfuhren. Daß der schwarze Mercedes der richtige sein würde, wußte er, noch bevor der Fahrer von der Hauptstraße abbog und das Mailänder Kennzeichen zu lesen war. Curzio stellte sich auf die Straße und hielt den Wagen an.
»Gianmaria Curzio«, stellte er sich vor, als der Fahrer die Seitenscheibe herabgelassen hatte. »Und Sie sind …?«
»Zu Ihren Diensten, Herr Curzio!« Der Fahrer stieg aus und öffnete Curzio die hintere Tür.
»Na, dann los!« sagte Curzio. Er ließ sich in das Lederpolster fallen, machte es sich bequem, sah nicht mehr zurück und summte leise die Melodie von »Nehmt Abschied, Brüder« vor sich hin.
6
Levante
Mamadou Thiam war ein Vucumprà. Allenfalls war er noch ein Schwarzer, aber sonst war er nichts. Während ein Italiener ein Italiener war, der aus Rom oder Urbino oder sonstwoher stammte und Rossi oder De Gasperi hieß, war Mamadou Thiam kein Senegalese von der Volksgruppe der Wolof, der in Saint Louis geboren war. Er hatte keinen Namen, er
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