Die Drachen von Montesecco
die Ähren hangabwärts wogten wie das Meer. Die ganze Welt war in Bewegung, doch die Zeit stand still.
Curzio dachte an gar nichts. Er war der Wind, der Stamm, das Blattwerk, die Sonne, der Schatten. Er fühlte sich nicht nur glücklich, er war das Glück selbst. Er würde leben, solange es Leben gab. Er wunderte sich nicht, daßder Olivenstamm sich als grinsender Benito Sgreccia entpuppte, der nur ein wenig krummer stand als sonst. Licht und Schatten verschmolzen hervorstehende Wurzeln zu einer Wiege, aus der Curzios kleine Tochter Marisa lachte, und die uralte Hand seiner Großmutter streckte sich mit den Zweigen nach unten und strich ihm übers Haar. Weit oben begann der Chor der Engel zu singen. Schnell wurden die Töne lauter, kamen näher. War Curzio gestorben, ohne es bemerkt zu haben? Flog seine Seele dem Himmel zu?
Verwundert stellte er fest, daß die Engel gar nicht sangen. Sie spielten eine Melodie, die ihm bekannt vorkam. Seine Seele brummte mit: »Nehmt Abschied, Brüder, ungewiß …«
Curzio schreckte hoch und schlug mit dem Kopf gegen etwas Hartes.
»… ist alle Wiederkehr …«
Es war stockdunkel. Curzio mußte kurz eingeschlafen sein. Links und rechts fühlte er glatte, kalte Wände.
»… diiii, diiii, di, di …«
Curzio lag in einer verschlossenen Grabnische. Allein. Der Himmel war anderswo. Weit und breit gab es keinen Engel, und die Melodie, die Curzio hörte, kam aus ihm selbst. Genauer gesagt, aus seiner Jackentasche. Wie hatte er nur sein Handy vergessen können! Sein nagelneues Siemens-Handy, auf dem ihm der nette Verkäufer diesen überirdisch schönen Klingelton eingerichtet hatte.
»… diiii, diiii, di, di …«
Hastig holte Curzio das Handy hervor. Er sah das Display mattgrün leuchten, die Zahlen, die Symbole, er sah wieder, sah seinen eigenen Daumen, der zitternd auf die Taste mit dem grünen Telefonhörer drückte und die Melodie abrupt beendete, aber das machte nichts, weil er dieses Lied sein Lebtag lang im Kopf behalten würde, und wenn er hundertfünfzig Jahre alt werden sollte, was keinesfalls auszuschließen war, denn wer einmal von den Toten auferstanden war, dem war alles zuzutrauen. Curzio hob das Handy ans Ohr. Zögernd fragte er: »Ja?«
»Einen wunderschönen guten Morgen, Herr Curzio! Hier Forattini, Sie erinnern sich?«
»Ja«, sagte Curzio. Er war nicht tot. Bald war er frei. Da machte es nichts aus, daß der rettende Engel, der speziell für ihn zuständig war, als Börsenmakler aus Mailand auftrat.
»Wissen Sie, was passiert ist?« fragte Forattini.
»Ein Wunder!«
»So ähnlich«, sagte Forattini. »Kaum kaufe ich Shell, sichern die sich überraschenderweise die alleinigen Rechte für ein riesiges Ölvorkommen vor Angola. Wissen Sie, ich möchte Sie als kleines Zeichen meiner Anerkennung gern zum Essen einladen. Ich würde mich wirklich sehr freuen, wenn Sie kommen könnten.«
»Ich auch«, sagte Curzio, »aber …«
»Kein Aber! Ich schicke Ihnen meine Limousine nach Montesecco. Sie müssen mal raus aus Ihren vier Wänden. Sonst fällt Ihnen ja die Decke auf den Kopf.«
Mit der freien Hand griff Curzio nach oben. Der Zement war glatt und kühl. Curzio sagte: »Sie haben recht, ich muß unbedingt hier raus.«
»Dann machen wir das doch gleich für heute abend fest. In drei, spätestens dreieinhalb Stunden ist mein Fahrer in Montesecco. Wo genau soll er Sie abholen?«
»Auf dem Friedhof. Er soll einfach hereinkommen. Wenn er mich nicht sieht, soll er noch einmal anrufen.«
»Sie haben immer etwas Besonderes auf Lager, was?« Forattini lachte. Dann fragte er: »Fühlen Sie sich gut, Herr Curzio?«
»Wie neugeboren.«
»Na wunderbar. Dann bis heute abend!« Forattini legte auf.
Natürlich wartete Curzio nicht auf den Fahrer. Er war lange genug eingesperrt gewesen und wollte keine Sekundelänger als unbedingt nötig in dem verdammten Grab verbringen. Jetzt, da er über sein Handy verfügte, konnte er ja jemanden anrufen. Seine Tochter Marisa zum Beispiel. Daß auch sie der Verschwörung gegen sein Leben angehörte, mochte er nicht glauben. Sein eigen Fleisch und Blut! Er tippte Marisas Nummer ein und hatte Glück, daß sie selbst sich meldete. Sie überfiel ihn mit Fragen, doch Curzio wehrte ab und beschwor sie, keiner Menschenseele und nicht einmal ihrem Mann etwas von seinem Anruf zu verraten. Sie solle sich anziehen, unauffällig das Dorf verlassen, und wenn sie sicher sei, daß ihr niemand folge, solle sie zu ihm kommen.
»Wohin denn?«
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